Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
Ansicht, dass Privatleben und Wochenenden hoffnungslos überschätzt wurden und alles unter einer 75-Stunden-Woche eigentlich schon als Urlaub galt. Sie selbst ging mit gutem Beispiel voran und machte nie Ferien, und das bisschen freie Zeit, das sie sich gönnte, verwendete sie darauf, so auszusehen, als käme sie gerade von einem zweiwöchigen Maledivenaufenthalt. Das Dekolleté im Armanikostüm war stets sonnengebräunt, die Haare mit strandblonden Strähnchen aufgehellt, und für Klienten konnte sie sogar ein sensationell erholtes Lächeln auf ihr Gesicht zaubern. Wir hatten keine Ahnung, wie alt sie war, vermuteten aber, dass sie trotz bedeutend jüngerem Aussehen ihren fünfzigsten Geburtstag längst hinter sich hatte. Sie wollte, dass wir sie Gabi nannten, und das taten wir auch, wenn es sich nicht vermeiden ließ, aber in ihrer Abwesenheit hieß sie »die Frau, die keinen Schlaf braucht« (an den guten Tagen) oder »die Blutgräfin des Rheinlands« (an allen anderen Tagen). Selbst Linda, die ja überzeugt war, dass tief in unserer Chefin ein guter Kern vergraben war, gab zu, dass sie ihn meist ausgesprochen gut versteckte.
»Was sind das eigentlich für alberne Zöpfchen, Linda?«, fragte Gabi.
»Mein inneres Kind …«, begann Linda, brachte den Satz aber nicht zu Ende, weil Gabi wieder mit den Augen zu rollen begann. Stattdessen murmelte sie: »Bengt hat gesagt, er findet die Frisur niedlich.« Kein ungeschickter Versuch, Gabis Aufmerksamkeit auf Bengt zu lenken, das musste ich zugeben. Der verschüttete vor Schreck auch prompt seinen Kaffee.
»Ich kann da leider nichts Niedliches erkennen.« Gabi schnalzte mit der Zunge. »Mach die weg. Ich komme nachher mit einem neuen Klienten wieder, und der soll nicht denken, er sei im Kindergarten gelandet.«
Gehorsam zog Linda die Gummis aus ihren Haaren.
»Ich muss los.« Gabi warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, und ich unterdrückte einen erleichterten Seufzer. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass es den anderen beiden genauso ging. »Warum ist Marlene noch nicht da? Man sollte doch denken, dass sie nach einem freien Tag ausnahmsweise mal nicht verschläft. Wo ist mein Mantel?«
»Hier!« Bengt beeilte sich, seinen Kaffee abzustellen und der Blutgräfin in den Mantel zu helfen.
»Das war kein freier Tag«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass mein empörter Tonfall an Gabi vollkommen verschwendet war. »Marlene hatte eine Darmspiegelung .«
Du musst die Laufrichtung ändern, sagte die Katze zur Maus und fraß sie.
Franz Kafka
»Wie auch immer.« Noch ein letztes Schnalzen. »Gegen elf Uhr bin ich wieder hier, mit dem Klienten, und es wäre schön, wenn ihr dann allesamt ein wenig motivierter rüberkämet und du keinen Kaffeefleck mehr auf dem Hemd hättest, Bengt.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl, du kontrollfreakige, untervögelte Ziege«, knurrte Bengt. Aber erst, als Gabi zur Tür hinausgestöckelt war. »Da! Jetzt habe ich wieder meinen Ausschlag bekommen. Wusstet ihr, dass die meisten Krankheiten durch negativen Stress ausgelöst werden? Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt noch aufrecht gehen können! Nur weil diese Person keinen Sex hat, müssen wir alle leiden.« Er krempelte den Hemdsärmel hoch und zeigte mir sein Handgelenk. »Siehst du das? Juckt wie der Teufel. Ich muss einen Arzttermin machen, das ist mir zu unheimlich.«
»Ich sehe nichts«, sagte ich wahrheitsgemäß, aber auch weil ich wusste, dass man Bengt auf keinen Fall bei seinen hypochondrischen Überlegungen unterstützen durfte. Er hatte andauernd seltene, meist tödliche Krankheiten, mit denen er sich bevorzugt bei »Dr. House« und »Grey’s Anatomy« ansteckte. Zwickte es ihn im Bauch, hatte er mindestens ein hepatozelluläres Adenom, und neulich war er fest davon überzeugt gewesen, sein eingerissenes Nagelhäutchen zeuge in Wirklichkeit vom Befall von S treptococcus pyogenes , einem fleischfressenden Bakterium, das ihn über kurz oder lang grausam töten würde. »Woher willst du wissen, dass sie untervögelt ist? Kann man das denn Leuten ansehen?«
»Ich bitte dich!« Für eine Sekunde ließ Bengt seinen eingebildeten Ausschlag aus den Augen. »Natürlich sieht man das! Wie sie sich bewegt, so unlocker in den Hüften, und wie giftig sie guckt … Glaubst du etwa, dass jemand, der sich so gemein verhält, vor Kurzem noch Sex hatte?«
»Vielleicht schlechten«, murmelte ich und überlegte, ob ich womöglich auch unlocker in den Hüften rüberkam. Bestimmt! Nachdem
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