Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
Jellinek
In der Nacht hatte ich einen Albtraum. Eva und Robert standen vorne am Altar, während DIE TANTE die Kirchenfenster mit einer grauenhaften A-capella-Version von »Ave Maria« zum Klirren brachte. Ich bewarf sie verzweifelt mit Pfirsichen, und als ich damit nicht traf, versuchte ich es mit Gesangbüchern, aber auch die landeten ganz woanders, und schließlich nahm ich alles, was ich in die Finger kriegen konnte. Nur um irgendwann zu merken, dass DIE TANTE überhaupt nicht grässlich sang, sondern wunderschön. Und alle starrten mich entsetzt an, Mathias, meine Eltern, Eva, Robert und Friedlinde. Die Kirche war zudem voller Menschen, die dort eigentlich gar nicht hingehörten: mein ehemaliger Deutschlehrer, zum Beispiel, außerdem Gabi, Linda, Bengt, Marlene, Amelie, Felix, Lillian, Florian, Gereon, meine Schwiegereltern, sogar Frau Baronski und Schwester Sabine. Felix und Lillian hielten Händchen und hatten beide ihre Augenbrauen abrasiert. Das sah total bescheuert aus, aber trotzdem musterte mich Lillian verächtlich von oben bis unten. Und da merkte ich, dass ich gar nicht das puderfarbene Kleid trug, sondern ein weißes Totenhemd. Vor dem Altar stand auch nicht länger Eva mit Robert, sondern ein einsamer Sarg. Niemand starrte mich mehr an, es war plötzlich so, als sei ich unsichtbar. DIE TANTE sang immer noch das Ave Maria (inzwischen war sie passenderweise bei der Zeile »in hora mortis nostrae« angekommen und holte zu einem Tonartwechsel aus, der da gar nichts zu suchen hatte), aber ich konnte nichts mehr auf sie werfen. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen, nicht mal mehr mit einer Wimper zucken. Ganz und gar gelähmt schwebte ich langsam Richtung Kirchendecke, an der Orgelempore vorbei, auf der plötzlich der Obdachlose aus der U-Bahn stand und mir zuwinkte. Und dann wurde alles um mich herum dunkel, und ich wusste, dass ich nun in dem Sarg vor dem Altar lag …
Keuchend strampelte ich mir die Bettdecke vom Leib und setzte mich auf. Bestimmt wollte der Traum mir etwas sagen, das wollen Träume doch immer. Und die Botschaft hier war eindeutig, da gab es gar nichts zu missdeuten: Ich war tot.
Ich starrte in die Morgendämmerung und versuchte, meinen rasenden Puls zu beruhigen. Wie konnte ich tot sein, wenn ich mich doch so lebendig fühlte? Und wie war es möglich, dass mein eigentliches Leben irgendwo weit da draußen unter einer U-Bahn geendet hatte, wenn sich das hier so echt anfühlte? (Mittlerweile übrigens manchmal realer als das richtige Leben.)
Vermutlich wollte der Traum mir mitteilen, dass meine Zeit abgelaufen war, dass das vom Schicksal geborgte zweite Leben nun ein Ende hatte, jetzt, wo ich bekommen hatte, was ich wollte – oder vielmehr wen ich wollte.
Obwohl – noch hatte ich ihn ja gar nicht bekommen. Unser Wiedersehen gestern Abend in einem kleinen gemütlichen Restaurant in der Südstadt hatte ganz und gar im Zeichen des Jetlags gestanden. Mathias hatte trotz achtzehn Stunden Flug unglaublich gut ausgesehen (die dunklen Augenringe betonten seine Augenfarbe), und er hatte mich innig umarmt und wirklich nett angelächelt, aber schon bei der Vorspeise waren ihm beinahe die Augen zugefallen.
»Na, toll«, sagte er und versuchte, sich mit Klapsen auf die Wange wach zu halten. »Ich hab mich so auf dich gefreut, und jetzt sitze ich hier vor dir wie ein Zombie. Selbst meine Zunge ist irgendwie müde.«
»Ein sehr süßer Zombie, aber«, sagte ich. Nicht ganz uneigennützig hatte ich dann allerdings entschieden, das Dinner einfach abzubrechen und Mathias nach Hause ins Bett zu schicken. Sonst würde er womöglich morgen auf der Hochzeit mit dem Kopf in die Suppe kippen, und das konnte ich weiß Gott nicht auch noch gebrauchen.
Abgesehen davon wäre es schön, wenn er nach der Hochzeit noch über ein bisschen Restenergie verfügte, denn ich hatte uns ein Doppelzimmer im Hotel gebucht (ich würde mit Master-Card bezahlen, dann fiel es nicht sofort auf), das allerletzte Zimmer in ganz Münster, wenn man dem Rezeptionisten Glauben schenken konnte. Im Gästebett meiner Eltern wäre zwar genug Platz für uns beide gewesen, aber ich wollte unsere erste gemeinsame Nacht nicht unter den Blicken eines Schrumpfkopfes verbringen, abgesehen davon, dass die Schnarcher meiner Eltern – sie pflegten alle beide des Nachts ganze Wälder abzusägen – nicht gerade zu einer romantischen Stimmung beitragen würden.
Jedenfalls war ich recht früh im Bett gewesen, zu früh vielleicht,
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