Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
das Positive konzentrieren und die absurden Überlegungen mitsamt meinen Tränen einfach beiseitewischen. Das hier würde das schönste und romantischste Wochenende meines Lebens werden. Meiner beiden Leben.
Schon die Fahrt von Köln nach Münster hatte nichts zu wünschen übrig gelassen. Mathias war seinen Jetlag offenbar los, er hatte kein einziges Mal gegähnt, er war fröhlich und aufmerksam gewesen und hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ich mich beiläufig bei ihm erkundigte, ob er zufällig die Traumsymbolik von rasierten Augenbrauen kennen würde. (Kannte er nicht.) Auch sonst hatten wir uns blendend unterhalten, und als wir Münster immer näher kamen und ich immer aufgeregter wurde, hatte er mir angeboten, meine Hand zu halten. Ich hatte das leider, leider ablehnen müssen – es war mir klüger erschienen, angesichts der Tatsache, dass er die geschätzten hundert PS, die sein Auto mehr als meins hatte, durchaus zu nutzen wusste. (Dafür machte das Auto keine komischen Geräusche, wenn man über achtzig Stundenkilometer fuhr.)
Die Orgel setzte wieder ein, und DIE TANTE auf meiner anderen Seite schniefte laut. Ich reichte ihr ein Taschentuch. Mir war klar, dass sie nicht vor Rührung weinte, sondern meinetwegen. Es war mir auch wirklich nicht leichtgefallen, sie vorhin beiseitezunehmen und ein paar ernste Worte mit ihr zu sprechen. Aber immer noch besser, als mit Pfirsichen oder faulen Eiern meine Mandarina-Duck-Handtasche zu ruinieren.
»Aber ich wollte sie damit überraschen«, hatte DIE TANTE gesagt. Sie hatte ein rotes Tuch in ihre tiefschwarz gefärbten Locken gebunden und war auch sonst als Carmen verkleidet, ganz in Schwarz und Rot. Eigentlich fehlten nur die Kastagnetten. Na ja, und vielleicht hätte die echte Carmen keine Netzstrümpfe getragen. Und nicht so knalligen Lippenstift. Es war mehr eine Go-go-Version von Carmen. »Genauer gesagt ist es sogar mein Hochzeitsgeschenk für die beiden. Ich habe sonst keins.«
Wissen wir, alter Geizkragen.
»Im Prinzip eine nette Idee«, sagte ich. Aber nur, wenn du singen könntest. » Gleichzeitig hat Friedlinde einen Flötisten und eine Gitarristin von der Musikhochschule engagiert.«
»Das macht doch nichts«, sagte DIE TANTE, und ihre schwarzrote Polyesterbluse sprühte winzige kleine Blitze nach mir. »Es dauert ja nur fünf Minuten.«
Glaub mir, fünf Minuten sind sehr lang, wenn man dir beim Singen zuhört.
Ich seufzte. »Ich weiß, du meinst es nur gut, gleichzeitig denke ich, das Musizieren sollten wir doch lieber denen überlassen, die etwas davon verstehen.«
Sag die Wahrheit, aber sag sie auf nette Weise.
Emily Dickinson
Jetzt wurde DIE TANTE giftig. »Dann bist du wirklich die Letzte, die da mitzureden hat! Ich habe eine jahrelange Gesangsausbildung genossen, und überhaupt, was spielst du dich hier so auf, Miss Wichtig?«
Okay, dann eben nicht auf die nette Weise. Ich rief mir ganz kurz in Erinnerung, was DIE TANTE 4 schon alles getan hatte und noch tun würde und dass sie mich immer »Mopsgesicht« genannt hatte, als ich klein war, dann sagte ich mit einer Stimme, die mir selber einen Schauer den Rücken hinabjagte: »Wie dem auch sei: Du wirst nicht singen! Wenn du es trotzdem versuchst, werde ich dir dein Leben zur Hölle machen. Vergiss nicht, ich weiß, wie alt du wirklich bist. Und wer Tante Erikas Handcreme gegen Enthaarungscreme ausgetauscht hat. Haben wir uns verstanden?«
Und siehe da – es wirkte. DIE TANTE schien tatsächlich Angst vor mir zu haben. Sicherheitshalber setzte ich mich neben sie, aber der Gottesdienst ging ohne den leisesten Hauch eines »Ave Maria« über die Bühne. Es war einfach perfekt!
Als wir die Kirche verließen, hätte ich gleich wieder weinen können, diesmal vor Erleichterung. Gut, DIE TANTE würde mich dafür bis ans Ende ihres Lebens hassen, aber das störte mich wenig.
Der Regen war so nett, für die Hochzeitsfotos auf den Kirchenstufen eine halbe Stunde auszusetzen (ausnahmsweise mal nicht mein Verdienst), und es bestand die berechtigte Hoffnung, dass wir dieses Mal deutlich entspannter aussehen würden. Immerhin musste sich Eva in ihrem hochgeschlossenen Kleid nicht zu Tode frieren (hatte ich schon erwähnt, wie unwahrscheinlich jung und glücklich sie und Robert aussahen?), niemand bekam Vogelkacke auf den Anzug, und das Blumenmädchen erlitt auch keine hysterischen Heulkrämpfe, weil sich diesmal keine Tauben auf die Hochzeitsgesellschaft stürzten, als seien sie von
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