Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
immer wieder nach literarischen Vorlagen suche, die zeitgenössische Literatur durchforste und dann eine filmgerechte Adaption suche. Am schwierigsten sei das bei »Lolita« gewesen.
    »Wegen der Zensur«, sagte ich. Es sei sicher schwierig gewesen, einen so radikalen Stoff in der Atmosphäre der Prüderie, die damals in Amerika herrschte, zu verfilmen. Kubrick sah mich an, so als sei meine Frage unangemessen, nicht zutreffend. Nein, nicht so sehr deswegen komme ihm sein Film nicht ganz gelungen vor. Sondern weil Nabokov ein so vollkommenes Buch geschrieben habe, der Stoff gehe so sehr in der einzig gemäßen Sprache auf, dass da für die filmische Umsetzung kaum Raum bleibe. »Es ist ein perfekter Roman. Er sperrt sich wegen seiner Vollkommenheit gegen eine Verfilmung.«
    Mir ist dieses Gespräch wieder eingefallen, als ich Kubricks Film »Eyes Wide Shut« sah, den er nach Schnitzlers »Traumnovelle« gedreht hatte und der nach Kubricks Tod posthum in die Kinos kam. War auch diese sexuelle Traum-Obsession zu perfekt, um filmisch umgesetzt werden zu können?
    In den Jahren, da ich den Kampf um »Lolita« als Kulturredakteur erlebt hatte, war ich in Marcuses Buch auf Schnitzlers »Reigen« aufmerksam geworden, den der Autor, gekränkt durch die öffentliche Skandalisierung seines Stücks, dem der Sittlichkeitsprozess gemacht worden war, für künftige Aufführungen verboten hatte. Nur für Frankreich, für die französische Übersetzung hatte der alte Herr, ein großer Seelenarzt, ein getriebener Liebender, ein Verwandter Freuds und ein großer schreibender Maler unserer Seelenlandschaften und Analytiker psychischer Abgründe, eine Ausnahme erlaubt: um die Übersetzerin, eine seiner späten Lieben, zu versorgen. Diesem Umstand verdanken wir Max Ophüls Meisterverfilmung des »Reigens«, den ich im Programmkino mit großer bewundernder Begeisterung gesehen hatte.
    1963 als Chefdramaturg am Württembergischen Staatstheater besuchte ich Arthur Schnitzlers Sohn Heinrich in Wien, um ihn zu einer Freigabe des Stücks zu bewegen, das so sehr in die tektonischen Verwerfungen zu passen schien, die Sexualität und Veröffentlichung zu diesem Thema damals durchlebte: »Lolita« war erschienen.
    Dann erschien Edward Albees Skandalstück »Wer hat Angst vor Virginia Woolfe«. Ich »reinigte« für die Stuttgarter Aufführung, die ich durchsetzen konnte, den Text von allzu groben Deutlichkeiten, eine absurde Dramaturgen-Aufgabe, die nach dem Motto verlief: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!« Im Kino lief Ingmar Bergmans »Schweigen«, die filmische Beichte eines protestantischen Pfarrerssohns mit der albtraumartigen Inbrunst sexueller Verdrängungen und Enthemmungen, wie sie sich im Traum – und die Kunst ist immer eine Art Traum – entladen. Ich hatte am Vormittag am Text von »Wer hat Angst vor Virginia Woolfe« purgatorisch gearbeitet, denn dies war der Preis, den mir mein Intendant, Walter Erich Schäfer, abverlangte, damit ich das Stück nicht in das Kammertheater abdrängen müsste, sondern auf der »großen« Bühne des »Kleinen Hauses«, also des Schauspielhauses, aufführen lassen durfte. Nachmittags wollte ich ins Kino. Ins »Schweigen«. Der Film war nicht jugendfrei.
    Ich hatte keinen Ausweis bei mir und wurde, weil ich offenbar noch nicht erwachsen aussah, abgewiesen.
    Ich besuchte also Heinrich Schnitzler in Wien, einen sehr würdigen, sehr zurückhaltenden, sehr feinen älteren Herrn, der mir eher wie ein Sektionschef aus einem kakanischen Kabinett, etwa aus Musils »Mann ohne Eigenschaften«, als der Sohn des von mir geliebten Dramatikers der Wiener Decadence vorkam. Ich war damals noch zu jung, um im Anschein das Sein zu erblicken, Bilder waren noch Klischees. Wie auch die Frau an der Kasse in mir nicht den zwar kindsköpfig aussehenden, aber früh gereiften Mann erkannt hatte, dem man durchaus das »Schweigen« hätte zumuten dürfen. Egal. Es gelang mir zwar, Heinrich Schnitzler nach Stuttgart einzuladen, um ihm die hervorragenden Stuttgarter Schauspieler in mehreren Vorstellungen zeigen zu können. Und er inszenierte dann auch in Stuttgart, aber nicht den »Reigen«. Der korrekte Sohn wollte sich nicht über die testamentarischen Verfügungen seines Vaters hinwegsetzen. Er inszenierte »Professor Bernhardi«, ein Stück über den latenten Antisemitismus in Wien. Es wurde eine eindringliche, eine notwendige Aufführung, obwohl (scheinbar absurd) Günter Lüders, ein Hanseat aus dem Lübecker

Weitere Kostenlose Bücher