Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
konnte. Die Sieger dieses Wettbewerbs – zwölf von rund tausend – sollten ein Jahr lang in München in Theorie und Praxis ausgebildet werden.
    Ich war einer der zwölf Sieger, ein »Auserwählter«, über den die Würzburger »Main-Post« unter der Überschrift »Ein Würzburger schafft es« einen Zehn-Zeilen-Artikel veröffentlichte. »Ein Würzburger«, das war schon ein Sieg, denn obwohl ich nicht in Würzburg lebte, wo meine Eltern als Flüchtlinge mit vier Kindern eher geduldet als akzeptiert wurden, war ich, nach Ende meines Studiums, bei ihnen polizeilich gemeldet. »Ein Würzburger schafft es«, meine Eltern waren stolz auf mich und ich war stolz, dass sie Grund hatten, auf mich stolz zu sein. Aber kein Loch in den Strümpfen meiner Schwestern (die sich zu zweit ein Paar Schuhe zum Ausgehen, ja zum Schulgang teilen mussten), keine schlaflose Nacht meines Vaters wegen der ausstehenden Ratenzahlungen, keine gesellschaftliche Demütigung wegen des Flüchtlingsstatus, der meine Familie in Würzburg niederdrückte, wurde durch diesen »Stolz« (»Ein Würzburger schafft es!«) als weniger schmerzlich und schamvoll empfunden.
    Erst später, viel später fiel mir, konfrontiert mit stolzem Trotz, einer durch Stolz begründeten Eitelkeit, der hölzerne Lehrsatz meines Lehrers Cibulka in Bernburg am Gymnasium ein: »Dummheit und Stolz«, hatte er immer wieder mit seinem harten wasserpolackischen Akzent gesagt: »Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.« Mit zunehmendem Alter liebe ich Sprichwörter, selbst wenn ich an ihre Einsichten nicht glaube.
    »Ein Würzburger schafft es.« Ich hatte für meine Bewerbung einen Leitartikel über die damals schmerzlich ins westliche Selbstbewusstsein schneidende Erfahrung, dass der sowjetische »Sputnik« der erste Satellit im Weltraum war, zu verfassen. Die westliche Welt, auf dem Gebiet geistiger und technologischer Entwicklungen überflügelt von der östlichen Diktatur - das war für mich so, als wäre Gott, hätte es ihn gegeben, zum Kommunismus desertiert.
    Später wusste ich, dass alles ganz einfach und eigentlich noch schrecklicher war. Zufall. Die Amerikaner hatten beim Einmarsch in das besiegte Deutschland 1945 die Wissenschaftler der V-2 um Peenemünde eingesammelt und für die USA verpflichtet. Die Sowjet-Armee hatte die Raketenforscher in Halle, Leipzig, Dresden in ihre Gewalt bekommen. Die der Sowjetunion in die Hände gefallenen Forscher und Wissenschaftler der Nazis waren mit der Entwicklung von trocken angetriebenen Raketen befasst; die nach Amerika verpflichteten Raketentechniker um Wernher von Braun mit den von Flüssigstoff angetriebenen Raketen. Es war ganz natürlich, so weiß ich heute, dass die Raketen mit Trockenantrieb einfacher waren – also schneller zu entwickeln. Für die anderen (also das Apollo-Programm) mussten erst Kunststoffe entwickelt werden, die die extrem niedrigen Temperaturen des notwendigerweise gefrorenen Flüssigbrennstoffs meistern konnten. Dafür aber wurden es »raffiniertere« Raketen. Die es bemannt zum Mond schafften.
    Ich aber schrieb in meinem Bewerbungsleitartikel etwas von der westlichen Überlegenheit, die den Sputnik nur verschlafen hätte und deshalb erweckt werden müsse. Es war ein schöner, klarer, antikommunistischer Leitartikel, von der Furcht geprägt, die Sowjetunion könnte tatsächlich im Wettlauf der Systeme, im Wettstreit des Schreckens, den Kampf gegen die USA gewinnen.
    Später, als die Amerikaner, unter Kennedy, auf dem Mond landeten und dort, vor den Sowjet-Russen, ihre Fahne auf den Erdsatelliten pflanzten, war ich bei der »Zeit«. Und mein Kommentar war zwar noch begeistert – im Gefühl, aber nicht mehr im Ausdruck. Amerika-Begeisterung pur war 1969 nicht mehr angesagt.
     
    Ich kam also nach München. In der schönen Sendlinger Straße, nahe beim Sendlinger Tor, lag im obersten Stock, mit Dachterrasse, bei der AZ und SZ die Lehrredaktion. Ein Zimmer fand ich im Herzen Schwabings, das damals das künstlerische, boh ê mehafte Vergnügungszentrum der sonst eher spießigen Bundesrepublik war - von Hamburg, der Reeperbahn, St. Pauli hatte ich damals, vom Hans-Albers-Film »Große Freiheit Nr. 7« abgesehen, keine Ahnung. Ich war wieder am Ziel meiner Wünsche. Dort musste ich, so glaubte ich, nur noch durchstarten. Ich wurde bei Deutschlands bester Zeitung ausgebildet, in Deutschlands liberalster konservativer Stadt, die als einzige eine elegant-deftige Lebenskunst pflegte, ich war jung,

Weitere Kostenlose Bücher