Auf der Flucht
vor allem wirtschaftlich: »Keine Experimente!« Die Angst der Deutschen vor der Veränderung des Status quo begann.
An der »Spiegel«-Affäre nahm ich regen Anteil, auch parteiisch als Journalist, was bei der liberalen »Stuttgarter Zeitung« alles andere als ein Kunststück war. Die erste Auseinandersetzung zwischen dem politischen Establishment war die Hochhuth-Affäre gewesen (den Erhard später als »Pinscher« bezeichnete); hier waren die Intellektuellen, die Künstler und Schriftsteller zum ersten Mal gegen den Staat aufgetreten. In unzähligen Podiumsdiskussionen hatten wir Theaterleute und Journalisten uns mit hitzigen Diskussionsbeiträgen dafür eingesetzt, das Stück, das eine Mitschuld des Papstes am Genozid an den Juden – zumindest für Italien und für Rom – durch Duldung und Schweigen konstatierte, aufzuführen. Uns beherrschte ein Schwung, der uns von den eigenen Worten hingerissen, ja trunken sein ließ.
Ich saß in meinem Theaterbüro, als mir im Sommer 1962, kurz vor den Theaterferien, der Rowohlt Theaterverlag mit einem bedeutungsvollen Revers, den ich zu unterschreiben hatte – »Geheim! Geheim!«, »Wichtig! Wichtig!« – das Typoskript eines Theaterstücks schickte. Ich war Chefdrama turg der Württembergischen Staatstheater in Stuttgart, wobei die Vorsilbe »Chef« bedeutete, dass ich für die drei Sparten des Theaters (Schauspiel, Oper, Ballett) arbeitete. Im Fall der Oper kümmerte sich der Generalintendant Walter Erich Schäfer selber um den Laden. Ich suchte Programmheftbeiträge aus und saß in den Generalproben, machte nach den Proben in Gesprächen mit John Cranko oder den Opernregisseuren ein paar kritische Anregungen, das war's!
Im Schauspiel aber machte ich zusammen mit dem Schauspieldirektor Karl Viebach den Spielplan, die Stückauswahl, ich suchte nach den Regisseuren, der Besetzung, ich machte mit bei der dramaturgischen Aufbereitung von Stücken.
Da also lag dieses Stück auf meinem Tisch, das »Der Stellvertreter« hieß und von Rolf Hochhuth war. Den Namen hatte ich nie gehört, und als ich mich kundig machte, erfuhr ich, dass Hochhuth, der aus Kassel stammte, Lektor beim Bertelsmann-Lesering in Gütersloh war und dort eine schöne Wilhelm-Busch-Ausgabe betreut und herausgebracht hatte. Sein Stück war über zweihundert Seiten dick, hatte Bühnenanweisungen, die unausführbar waren (es sei denn, wir hätten den Vatikan auf unserer Bühne nachgebaut wie in Hollywood und die Figuren innere Monologe über die Zeitgeschichte und ihren Charakter sprechen lassen), und Szenenanweisungen, die langatmige Essays voller Bosheit und Pathos über die historischen Figuren waren. Der Text selbst holperte in einer Art Blankvers daher – es war, als hätte sich der Autor an zu viel Schiller (und zwar dem Dichter, nicht dem württembergischen Rosé-Wein) besoffen. Der Text strotzte vor Bildungshuberei, kam vom Hundertsten ins Tausendste, vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Ich hätte, ein ungeduldiger junger Mensch (und, wie ich jetzt zugeben muss, ziemlich theaterblind), das Stück, wäre es nicht mit dem Etikett der subversiven Wichtigkeit versehen gewesen, dem Autor sofort zurückgeschickt, vielleicht sogar mit einem Vordruckbrief, in dem sicheren Gefühl, dass hier ein begabter, aber eifernder Dilettant am Werk wäre. Wie recht man haben kann und wie schrecklich unrecht zur gleichen Zeit. Denn natürlich weiß ich inzwischen, dass Hochhuth der wichtigste und gleichzeitig auch der fürchterlichste Autor seiner Zeit war. Nun versendeten damals, während der »Stellvertreter« auf meinem Schreibtisch lag, die Buschtrommeln in der Theaterszene laute Signale: Das deutsche Theater spürte eine Sensation, erhoffte und befürchtete einen Skandal. Der große Erwin Piscator werde die Uraufführung an der Freien Volksbühne in Berlin inszenieren, und Dieter Borsche (damals ein Leinwandheld) würde den Papst spielen, und so reihte ich mich bei Rowohlt auf Verdacht in die Liste der Bewerber ein und las und las. Den »Stellvertreter«. Von Rolf Hochhuth.
Die deutschen Theater waren damals auf Kunst und Politik aus. Die Kunst bestand vorwiegend in der Aneignung der brechtschen Theaterarbeit, des expressiven Theaterstils Kortners und des psychologischen Realismus der Genauigkeitsfanatiker wie Rudolf Noelte. Die Politik bestand darin, sich mit der Nazizeit auseinander zu setzen und den als DDR-Parteigänger verpönten Brecht auf westdeutschen Bühnen zu etablieren. Das war auch eine
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