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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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wahrscheinlich zunächst desavouiert, weil ich Rolf Hochhuth und dem Rowohlt Verlag wieder absagen musste, also wegen der Blamage, die mir bevorstand: Wenn man schon feige sein muss, demonstriert man es nicht auch noch gern. Dass ich am Ende der Spielzeit beim Theater kündigte, hatte andere Gründe, jedenfalls vorwiegend.
    Aber so viel muss ich Hochhuth im Rückblick zugestehen: Er hat damals das Theater in Deutschland auch als eine journalistische und politische Bühne etabliert, Debatten in Gang gesetzt, die sonst in der Öffentlichkeit als Tabu galten und deshalb nie öffentlich geführt wurden.
    Rolf Hochhuths »Stellvertreter« war wohl das erste Kulturereignis, das im Fernsehen politische Wirkung zeitigte. In Kultursendungen war auf einmal das scheinbar stabilste Gefüge der Bundesrepublik, der Mythos von der christlichen Tradition, die den barbarisch atheistischen Systemen wie Nationalsozialismus und Kommunismus widerstanden hatte, in Zweifel gezogen: die katholische Kirche, die den Völkermord an den Juden toleriert, ja den Nazis Handlangerdienste leistete.
    Das löste ein gewaltiges Beben aus, und das Fernsehen registrierte diese Erschütterungen seismographisch getreu. Dass dies geschehen konnte, lag daran, dass die Kultur eine Seitenpforte bildete, durch die sich nicht vom politischen Konsens abgesegnete Meinungen (die der außerparlamentarischen Opposition, der Studentenbewegung, der Gruppe 47, der Anti-Atom-, der Anti-Schah- bis zu der Anti-Vietnam-Bewegung) in das öffentlich-rechtliche System einschleichen konnten, wie die Guerilla in scheinbar gesicherte Festungsstädte.
     
    In den entscheidenden Jahren um 1968 herum, als sich, zumindest in den Köpfen der »aufmüpfigen Studenten«, die Erde auftat, um das bundesrepublikanische Establishment zu verschlingen, war ich für den Hessischen Rundfunk von Kurt Zimmermann, dem Chef der ARD-Kultursendung »Titel, Thesen, Temperamente«, zur regelmäßigen Mitarbeit an dieser Sendung engagiert worden. Zimmermann, der um sich Redakteure wie Wolf Donner, Jürgen Kritz, Hans-Jürgen Rosenbauer versammelt hatte, ließ der Neugier und Unbekümmertheit seines jungen Teams viel Spielraum; einmal, weil er ein liberaler Mann war, dann aber auch aus einem gleichsam sportiven Interesse.
    Schließlich wurde ich Jahr für Jahr als Autor und Koordinator der aktuellen Buchmessensendung für den späten Sonntagabend engagiert. Nicht, weil ich als Literaturkritiker ein besonders herausragender Fachmann gewesen wäre, sondern weil ich als kommunikativer Mensch über gute Kontakte verfügte und als Mitglied der »Gruppe 47« und Redakteur erst der »Stuttgarter Zeitung« und später der »Zeit« in vielen Gesprächen und Interviews vorab eruieren konnte, was den Bücherherbst interessant zu machen versprach, wen man über Trends und Tendenzen befragen sollte. Vor allem aber, weil ich für die harte Knochenarbeit geeignet war, drei Tage und drei Nächte mit Kamerateams über das Messegelände von Buchstand zu Buchstand zu stiefeln, geduldig Interviews anzuzetteln und zu führen und auf Partys halb angetrunkene Autoren und ihre kameragierigen Verleger und Lektoren in Gespräche vor laufender Kamera zu verwickeln. Ich hatte auch noch Spaß dabei, weil sich zwischen die Arbeit das Vergnügen drängte, ich konnte mit Kollegen, Kolleginnen, Schriftstellern und Buchhändlerinnen flapsig schnell Scherze austauschen und freute mich an Klatsch und Tratsch.
    Die eigentliche Arbeit ging die Nächte durch, wenn ich im Schneideraum hinter einer Cutterin saß, der ich die ganze Zeit über die Schulter blickte, während sie Filme schnitt und Sequenzen zusammenklebte, kurz in O-Töne hineinhörte oder wenn beim Rücklauf oder Schnellgang Buchmessen-Dialoge und Kommentare als quakendes, quietschendes Geschnatter aus den Lautsprechern kamen. Dazu tranken wir heißen Kaffe aus Thermoskannen, stopften belegte Brote oder Schokolade in uns hinein und texteten am letzten Tag für den Endschnitt bildgenau und sekundenknapp die Messe zu kurzen Sentenzen: »Der neue Roman von Martin Walser spielt – wie könnte es anders sein – am Bodensee.« Bla bla bla! Es war eine Filmtechnik, die dem Leerlauf der Messe auf das Schönste entsprach – das heißt: auf das Schönste entsprochen hätte, wenn, ja wenn die Zeiten nicht anders gewesen waren.
    Auf einmal lag eine veränderte Stimmung in der Luft, auf der Messe fanden Demonstrationen statt, Autoren solidarisierten sich mit Protestbewegungen, und abends,

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