Auf der Flucht
oppositionell trotzige Haltung, an der wir im liberalen Stuttgart insofern einen Anteil hatten, als wir den Brecht-Schüler Peter Palitzsch, den wir ja erst als Hausregisseur gewonnen hatten, dann zum Schauspieldirektor machten. Palitzsch übrigens schüttelte sich, als ich ihn fragte, ob er den »Stellvertreter« inszenieren wolle. Das war ihm denn doch zu weit von Brecht weg.
Bei der gründlichen Hochhuth-Lektüre waren zwar meine Zweifel an der Macht der Sprache und der Zeichnung der Figuren nicht geringer geworden, aber ich spürte die Kraft und den moralischen Eifer, die gerechte Wut, die Hochhuth beflügelt hatten. Ich ging zu Schäfer und erzählte ihm von meinem Hinundhergerissensein. Dann führte ich das übliche weiche Dramaturgen-Argument an: Da kommen wir, fürchte ich, nicht drum herum!
Schäfer (er hatte selbst ein Stück über den deutschen Widerstand geschrieben), ein Mann mit einem hoch empfindlichen Sprachgefühl, war stark kurzsichtig, fast blind. Er hatte sich das Stück schon vorlesen lassen und jammerte laut über die Sprache: »Ja, wenn Martin Walser sich des Themas angenommen hätte, der verfügt über Sprache, aber so …« Ich gab nach, auch weil ich im Grunde Schäfers Meinung war. Auch ich war auf Kunst und auf Brecht aus, und außerdem war Hochhuth weder ein Schiller noch ein Tschechow: Das schon gar nicht.
Inzwischen rückte die Berliner Premiere des »Stellvertreters« (der 20. Februar 1963) näher, viele Bühnen hatten sich in die Aufführungsrechteschlange eingereiht, manche mussten auf Druck ihrer Stadtväter bereits wieder zurücktreten.
Es wurde immer deutlicher, dass das Theater dabei war, einen politischen Stellvertreterkrieg zu führen, indem es den stillschweigenden Konsens der Adenauer-Restauration aufkündigte: Die katholische Kirche stand auf einmal im Rampenlicht, das Theater klagte an. Der Papst war kein Gegner Hitlers gewesen, sondern, schlimmstenfalls, sein Handlanger und Komplize, bestenfalls ein durch Schweigen und Sichabwenden Schuldiger. Neueste Dokumente ergeben ein differenzierteres Bild, als es der große Vereinfachungskünstler Hochhuth seinen Zuschauern mit dem Holzhammer beizubringen suchte.
Den politischen Sprengsatz, der in diesem Stück steckte, bemerkte natürlich auch mein Intendant, und so bat er mich, noch am Abend nach der Berliner Uraufführung ein Gespräch mit Hochhuth und dem Rowohlt-Verlag zu suchen, um noch einen günstigen Platz in der Schlange zu bekommen.
Ich lernte Hochhuth kennen, der im Siegestaumel der Premierennacht (ein einmaliger Welterfolg kündigte sich an, eine Wende in der Theater-Szene) angenehm und bescheiden blieb: ein Eiferer in der Sache, ein Mann von angenehmen Umgangsformen dazu, geschäftstüchtig und bestimmt, gleichzeitig immer in leidenschaftlicher Erregung. Bei der ersten Begegnung war ich erschrocken: Ich wusste nicht, dass Hochhuth unter einer halbseitigen Gesichtslähmung litt, und hatte nur den Eindruck, in ein hochmütig preußisches Antlitz zu blicken, wie es Monokelträgern eigen ist. Und wie ich es auf Karikaturen von George Grosz unzählige Male gesehen hatte. Das Gesicht der arroganten Macht! Hochhuth aber war alles andere als arrogant; er war kooperativ. Natürlich bekamen wir als große Bühne eine zeitlich günstige Aufführungsoption.
Als ich spät in der Nacht in mein Berliner Hotel zurückkam, lag da eine Nachricht von Walter Erich Schäfer. Ich hätte doch hoffentlich noch nicht abgeschlossen, es gäbe einige Probleme, ich solle am nächsten Morgen zurückrufen. Als ich Schäfer dann um acht Uhr morgens (er war ein Frühaufsteher, der oft mit der Straßenbahn ins Theater fuhr) anrief, sagte er mir, der Beirat habe Einwände erhoben. Es sei doch nicht wünschenswert, wenn sich das Theater derart mit der Kirche anlege, Ministerpräsident Kiesinger habe natürlich gesagt, dass das Theater allein zu entscheiden habe, das sei selbstverständlich, aber …
Schäfer hat mir das »Aber« später erläutert: Er, der seiner Oper und seinem Ballett gerne Glanzlichter aufsteckte, war oft auf die mäzenatische Gunst der Freunde der Oper angewiesen. Am Telefon sagte er mir, dass es nicht dafür stehe, wo wir doch beide, er und ich, die sprachliche Dürftigkeit des Stückes beklagt hätten …
Ich erinnere mich nicht, ob ich damals gleich gemerkt hatte, dass ich Zeuge eines beginnenden Erosionsprozesses der etablierten Bundesrepublik war, dass ich gerade einen signifikanten Moment erlebt hatte. Ich fühlte mich
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