Auf der Flucht
das Bestehende auf einmal der alte Antisemitismus als neue Fratze aufgetaucht. Weil die Palästinenser sich bei ihren neuen deutschen Terrorfreunden schulterklopfend an den alten Rassismus erinnerten, beteiligte sich die radikale Linke (Schulter an Schulter mit der radikalen Rechten) an einem neuen Antisemitismus, dem sie einen neuen Namen gab – Antizionismus. Man war nicht gegen Juden, beileibe nicht, aber gegen den Judenstaat, gegen Israel. Man war gegen den Einfluss der Juden von der Ostküste der USA (das war schon für Hitler Teil der jüdischen Weltverschwörung), man war für den »Freiheitskampf« der Palästinenser, und im Namen dieses Freiheitskampfes »selektierte« man bei gekaperten Flugzeugen Juden, Bürger Israels, man nahm Juden ins Visier von Attentaten – eine gruselige Konsequenz, die bis heute das Bewusstsein linker Radikaler prägt.
All diese Kämpfe, notwendige wie eingebildete, Bürgerkriege unterdrückter Minderheiten oder staatsstreichähnliche Allmachtsphantasien verstörter Bürgerkinder, alle diese Kämpfe sind Teil eines asymmetrisch geführten Dauerkriegs, der immer wieder an Brennpunkten aufflammt – die 1968er Kulturrevolution war ein globaler Ausbruch an den verschiedensten Schauplätzen mit sehr verschiedener Heftigkeit und sehr wechselnder Motivation. Aber Deutschlands Apo-Anhänger, die doch lauthals alles bekämpften, was ihnen »faschistisch« oder »faschistoid« vorkam (die Begriffe erlebten eine schwindelerregende Inflation), hatten keine Skrupel, den Antisemitismus muslimischer und palästinensischer Terroristen zu tolerieren, ja zu unterstützen.
Diese Kämpfe waren (und sind) auch mittels des Fernsehens geführt worden. Es vergrößert noch den kleinsten Anschlag, die abgelegenste Demonstration zu einem weltweiten Ereignis im Mediendorf. Ein Korrektiv allerdings gibt es dabei: In der Öffentlichkeit muss die Bereitschaft existieren, diese Botschaft anzunehmen.
Ich kann dafür das größte, das spektakulärste Beispiel anführen: den 11. September 2001, als Milliarden Zuschauer sozusagen als direkte Teilnehmer an einer asymmetrischen Schlacht zwischen Al Quaida und den aus dem Kalten Krieg als einzige Weltmacht hervorgegangenen USA teilnahmen, zuschauend, teilhabend, triumphierend, mit niedergeschlagener, hilfloser Trauer. Und ich kann ebenso ein nebensächliches, fast absurd winziges Beispiel anführen, das damals ein gewaltiges Echo fand.
Im August 1995 erschien der »Spiegel« mit einem Titel, auf dem Marcel Reich-Ranicki ein Buch sozusagen in der Luft zerreißt. Es war der neue, groß angekündigte Roman von Günter Grass, »Ein weites Feld«. Ich war eigentlich schuld am Titelbild, weil ich bei einer Geburtstagsfeier für Reich-Ranicki auf einem Ü-Wagen des ZDF in Frankfurt eine riesengroße Fotocollage gesehen hatte, auf der Reich-Ranicki überlebensgroß ein Buch wie eine Ziehharmonika auseinander zieht, also in der Luft zerreißt: ein witzig polemisches Bild, ohne ein konkretes Buch als »Opfer«. Das wählte nun der »Spiegel« zum Titelbild, nachdem ich ihnen die Vorlage besorgt hatte.
Als die ersten Exemplare druckfrisch am Samstag Nachmittag beim Pförtner im Spiegelhaus an der Brandstwiete angekommen waren – Redakteure können sie sich vorzeitig abholen –, hatten wohl auch Grass-Freunde Wind von der Sache bekommen. Drei ältere freundliche Herren, offenbar linke Sozialdemokraten oder Gewerkschafter, standen vor dem zugigen Eingang des dreizehnstöckigen Hochhauses. Und: Fernsehkameras des NDR und ZDF, die die Auslieferung der ersten Exemplare festhalten sollten – das »Literarische Quartett« war damals auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Wirkung, und seine Sendungen waren vor allem im Zusammenhang mit Grass für Empörung gut. Am Donnerstag dieser Woche sollte das Quartett den neuen Grass besprechen: einen Roman zur deutschen Wiedervereinigung, zu Fontane und zur Treuhand, inklusive Aufarbeitung des Rohwedder-Mordes – das übrigens in einer recht infamen Weise. Die drei freundlichen älteren Herren hielten ein Protestplakat hoch – etwas gegen das Bücherzerreißen, das in Deutschland hässliche Assoziationen an Bücherverbrennungen wachrief (wieder lauerte das Schlag- und Totschlagwort »faschistoid« hinter der zugigen Ecke an der Ostweststraße). Ich unterhielt mich freundlich mit den freundlichen Demonstranten, fragte freundlich, ob das nicht etwas (etwas!) übertrieben sei. Die Kameras filmten, weil sie schon mal da waren. Das Ganze
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