Auf der Flucht
war eine klitzekleine, leise Angelegenheit, die vielleicht fünf Minuten dauerte; dann trollten sich alle, den neuen »Spiegel« unterm Arm.
Am Abend liefen die Bilder der Demonstranten, die mutig, wenn auch windschief vor der Glasfront des »Spiegel« standen, als eine wichtige Meldung über die TV-Nachrichtensendungen im Ersten, im Zweiten, in den Dritten, bei den Privaten. Aus einer Protest-Mücke wurde ein Medien-Elefant. Und in den Köpfen der Leute prägte sich ein: Der »Spiegel« hat den größten deutschen Schriftsteller (der damals noch kein Nobelpreisträger war) unfair attackiert, verfolgt, sein Buch zu vernichten versucht, noch ehe es richtig erschienen ist. Fest steht, dass das Buch durch den »Spiegel«-Titel, die sich daraus ergebende »Spiegel«-Schelte (allmächtiges Presse-Organ gegen Einzelkämpfer Grass), die »Quartett«-Sendung in der gleichen Woche, die erneute Empörung über den »Quartett«-Verriss des Buchs einen riesigen Verkaufserfolg erzielte. Ob der »Nobelpreis« diesem TV-Spektakel zu verdanken ist? Ganz gewiss nicht! Die Begründung hebt ausdrücklich die »Blechtrommel« von 1959 hervor. Aber ob die Komitee-Mitglieder nicht auch das Bild im Hinterkopf hatten, der große Roman (oder besser gesagt: dicke Roman) über die Wiedervereinigung habe eine Presse- und TV-Kampagne gegen sich erlebt? Das könnte ein Spurenelement in der Masse der Gründe für den Preis sein, höchstens. Aber immerhin. Wo viel Rauch ist, vermutet der Volksmund, ist auch viel Feuer. Das Fernsehen ist ein Medium für viel Rauch und zündet dadurch viele Feuer an.
1967, als die Fernsehchefredakteure, Programmdirektoren, Hauptabteilungsleiter sich in die Schneideräume begaben, um sich vorbeugend (vorauseilender Gehorsam der öffentlichrechtlichen Sender gegenüber allen Staatstragenden) über die Schulter der Cutterinnen und der neben ihnen sitzenden Beitragsautoren zu beugen, erlebten wir zum ersten Mal, dass wir mit unseren kleinen Filmbeiträgen oder großen Messefilmen im Fernsehen nicht nur die Realität (in diesem Falle die politische) abbildeten, sondern auch am Entstehen der politischen Wirklichkeit mitwirkten. McLuhans Slogan »The medium is the message«, den ich damals irrtümlich für schick formulierten Stuss hielt, hatte plötzlich eine reale, politische Dimension. Wir alle waren jung, wir gehörten zu der jüngsten jungen Generation, die Deutschland nach dem Krieg hatte – sie reichte von Achtzehnjährigen bis zu den Vierzigjährigen, obwohl der Slogan hieß: »Trau keinem über Dreißig!« Und auch Ältere machten sich mit energisch bewegten Schritten auf, zurück in die Jugend, sie wollten dabei sein; noch einmal. Sie drückten die Knie durch beim Gehen, ließen sich lange Haare wachsen und taten, als hätten sie nie etwas anderes gehört als die Beatles und die Rolling Stones und nie etwas anderes geraucht als Joints und nie etwas anderes geblödelt als »Haschu Haschisch in den Taschen, haschu immer wasch zu naschen«.
Die »ttt«-Redaktion arbeitete damals noch im Hauptgebäude des Hessischen Rundfunks in der Frankfurter Bertramstraße, der Sender schien uns riesengroß; manchmal scherzten wir darüber, dass sich in den labyrinthischen unterirdischen Gängen schon Mitarbeiter verlaufen hätten, die nie wieder aufgefunden worden wären; vergeblich hätten sie sich mit Klopfzeichen gegen die Wasser- und Heizungsrohre gemeldet; jetzt wären sie Skelette qualvoll Verhungerter. Eigentlich, so erzählte man, hätte der große Komplex mit dem Kuppelbau das Zentrum der neuen Republik nach 1949 werden sollen; der Bundestag. Aber dann habe Adenauer die Republik vom Main an den Rhein verlegt, nach Bonn, weil er in Rhöndorf lebte, in einer Rosenidylle. In Frankfurt waren nur die Banken geblieben, noch ohne Mainhattan-Skyline, die Verlage, die Buchmesse, die Zeitungen waren hier. Und eigentlich habe Adenauer, so meinten wir grinsend, Recht daran getan. Hier regierte auf einmal die Straße, die Demos, die Apo-Proteste, was im sauber ausgefegten Bonn der Vorstädte, Rheinburgen und Beamtenvillen nicht hätte passieren können. Niemals!
Wir »ttt«-Nachtarbeiter tranken aus Bechern Kaffee und holten uns Süßigkeiten aus Automaten, vor allem aber rauchten wir nachts die Aschenbecher voll und sahen die Filme in graue Rauchschleier gehüllt, ehe das Morgengrauen den Rauch aus den geöffneten Kippfenstern trieb und wir zum Frühstück in die Kaiserstraße fuhren, wo wir zwischen Huren, ihren Freiern, ihren
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