Auf der Flucht
großbürgerlicher Behaglichkeit lebte. Er war ein leicht gebeugter feiner älterer Herr, schmal gewordene Lippen, große Ohren, schüttere, nass gekämmte Haare und im zu weiten Hemdkragen hinter der Krawatte ein Truthahnhals, und hatte immer noch den unverkennbar schwäbischen Akzent seiner Jugend. In einer reichen Unternehmerfamilie groß geworden, wirkte er in seinen selbstverständlich zeitlosen Anzügen aus edlen Stoffen alles andere als revolutionär, ein bisschen ähnelte er Ernst Bloch, nur weniger feuerköpfig, ein Eindruck, den Blochs widerspenstige weiße dichte Haarmähne und sein blitzend lebhafter Blick durch die dicken Brillengläser vermittelten.
Am Abend spielte das Ehepaar Horkheimer Binocle; wir saßen beim Tee im schummrigen Licht beisammen: der späte Glanz und die abendliche Harmonie in der Welt des Tessins – absurd weit von den Straßenkämpfen und Straßenumzügen in Frankfurt entfernt. Dieser Vater der Revolte, die da tobte, schien wie in einer anderen, von den Revoluzzern zum Versinken verurteilten Welt zu leben. Es war deren bürgerlicher Widerschein, den Horkheimer in unseren langen Interviews immer wieder zu verteidigen suchte. Wenn er den Begriff der Solidarität bemühte, dann in dem Sinne, dass wir angesichts unserer Kurzzeitigkeit auf dieser Erde, »Schimmelpilze in ihrer Rinde«, Schutz und Trost der humanen Solidarität gegenüber Tod und Vergänglichkeit brauchten – wie er es formulierte.
Zum Ende unserer Gespräche wollte ich ihn dazu bewegen, etwas zu den Studenten in Paris, Berkeley, Berlin zu sagen, die sich doch auf ihn beriefen (wie auf Adorno oder Herbert Marcuse, denen er in den USA an seinem »Institut für Sozialforschung« das Weiterschreiben und Überleben ermöglicht hatte), wenn sie die spätkapitalistischen Herrschaftsstrukturen zerschlagen wollten. Ich rechnete mit Aufmunterung, Zustimmung. Aber anders als etwa Marcuse und ähnlich wie Adorno verweigerte er denen, die in seinem Geist zu handeln glaubten, seine Zustimmung. Immer wieder mündete sein Verständnis für die Motive der Studentenbewegung vor laufender Kamera in eine fast harsche Verurteilung ihrer Rechtsbrüche. Und wenn ich ihn darauf aufmerksam machte, so als hätte ich gedacht, das sei ihm, dem alten Mann, gleichsam unterlaufen, war er sofort bereit, sein Schluss-Statement, sein Resümee zur Gegenwart noch einmal zu formulieren – stets mit dem gleichen Resultat.
Schließlich war er erschöpft, aber er sagte mir – auch er nicht ganz zufrieden mit dem Gesagten, denn es fiel ihm schwer, seine Schüler, die in die Anarchie abzudriften schienen, zu verurteilen –, dass er in einigen Tagen ohnehin nach Frankfurt komme. Dort könnten wir den Schluss noch einmal drehen. Er kam, wir drehten den Schluss noch einmal, wieder mehrere Male. Aber stets lief das Ende auf eine Verurteilung des Bruchs bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit hin, die er als große, bleibende Errungenschaft der Französischen Revolution, der englischen Verfassungsentwicklung und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung pries. Toleranz und Rechtssicherheit standen in dem Denken des Philosophen nicht mehr zur Disposition. Um keinen Preis. Aufgrund seiner Lebenserfahrung wusste er, wovon er sprach. Die sich auf ihn beriefen, wollte er nicht verletzen; aber in aller Deutlichkeit warnen, das schon! Und so wurde der Film auch verstanden. Niemand von der Apo konnte fortan mit seinem Segen agitieren. Mich machte die Kritik (zum Beispiel im »Spiegel«) zum braven Abnicker der Äußerungen Horkheimers, ein Vorwurf, der mir heute eher gefällt.
Im Rückblick auf die sich ankündigende Morgenröte, die vom »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« auf die mürbe Menschheit beiderseits des Eisernen Vorhangs fallen sollte, fällt mir ein, dass Dubèek und die Seinen mit viel Mühe dem Sozialismus jene Rechtsstaatlichkeit zurückerobern wollten, die die Apo sich anschickte, als »repressive« oder »instrumentalisierte« Toleranz aus der Welt zu demonstrieren. Erst mit Parolen, dann mit Steinen. Dann mit Molotow-Cocktails. Und schließlich mit Mord und Totschlag aus dem Untergrund.
Als die Tagung zu Ende war, bot mir Augstein an, mich mit nach Hamburg zu nehmen. Ich hatte ihm erzählt, dass ich, wie er auch, nur zwei Tage später zur Hochhuth-Premiere der »Soldaten« ohnehin nach Berlin müsse, und er fand, ich könne doch, statt erst nach Stuttgart zurück zufahren, mit ihm und seiner Frau Maria nach Hamburg fliegen und mit ihnen
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