Auf der Flucht
Schauspieler Szenenapplaus schenkten, fühlte auch ich mich wie beschenkt, und zwar nicht nur von einem, sondern von vielen. Vom Publikum. Später hat mir Wilder erzählt, dass der Einzelne, mag er noch so sehr – mit seinen privaten Obsessionen, seinem Kummer, seiner momentanen Situation – isoliert ins Kino oder ins Theater kommen, dort zum Publikum wird, das in einem Augenblick als Ganzes des Gleiche fühlt, mit anderen zusammen lacht oder weint oder den Atem anhält. Dabei war Wilder schon durch seine Erfahrungen alles andere als ein Schwärmer, dem Tränen der Rührung über sein Publikum den Blick verschleiern.
Er hatte zum Beispiel am Anfang von »Sunset Boulevard« (der Film beginnt in der Endfassung mit der umwerfenden Situation, dass eine Leiche im Swimmingpool zu reden anfängt) eine Szene in einer Morgue, dem Leichenschauhaus von L. A., gedreht. Und die Leichen waren in Schließfächern, wurden herausgezogen und hatten das Namensschild am großen Zeh zur Identifikation. Bei der Preview hatten die Leute gelacht, so dass Wilder die Szene weggeschnitten, weggeworfen hatte. »Ich hatte vergessen, wie kitzlig Menschen gerade am großen Zeh sind! Also musste ich die Szene in der Unterwelt streichen.«
Ich hatte im »Spiegel«, wo ich bereits seit elf Jahren das Kulturressort leitete, natürlich von der Osnabrücker Premiere nichts gesagt. Nicht so sehr, weil ich gehofft hatte, das Ereignis auf diese Weise zu verheimlichen. Eher, weil ich mich als Daniel Doppler nicht so wichtig machen wollte. Was war dem »Spiegel« schon eine Uraufführung in Osnabrück! Und so war natürlich niemand von den Kollegen in der Premiere. Dachte ich. Bis ich beim Schlussbeifall in der Arena des »Jugendtheaters« Rudolf Augstein entdeckte. Er war beim Beifall von seinem Platz hinuntergestiegen, und ich sah, wie er heftig übertrieben klatschte, und hörte, wie er den Beifall sogar durch seine Bravo-Rufe anheizte. Das ist ein Freund, dachte ich stolz und gerührt. Eben ein ironischer Freund. Und da ich während der Premiere natürlich nicht im Publikum gesessen hatte, sondern mit blanken Nerven und wie betäubt hinter der Bühne, hörte ich anschließend von meiner Frau, dass Augstein mit einer Reihe von Freunden da gewesen sei und sich von ihr fröhlich und mit Grüßen an mich verabschiedet und auf die Heimfahrt nach Hamburg begeben habe.
Wir übernachteten von Sonntag auf Montag in Osnabrück. Am Montag zur großen »Spiegel«-Konferenz hatte ich vorsorglich frei genommen. Am Dienstag fand, wie an jedem »Spiegel“-Dienstag, die Verlagskonferenz statt, auf der sich nur die Chefredakteure, der Herausgeber, die Verlagsleiter trafen. Nach dieser Konferenz rief mich Augsteins Sekretärin an: Ob ich Zeit hätte, mit dem Herausgeber im Nürnberger Bratwurstglöckl zu essen. Natürlich hatte ich Zeit, natürlich hatte ich Zeit zu haben, denn in diesen Jahren ging Augstein mit mir oft zum Essen und Biertrinken und wir sprachen über Politik, noch mehr aber viele Monate lang über seine Scheidung, die ihn sichtlich mitnahm, auch weil er, der gerne die Regie über die Wirklichkeit führte, hier nur der Akteur in einem Stück war, über dem ein Richter thronte und Anwälte das Sagen hatten. »Damit kommen sie nicht durch!« Tag für Tag beharrte er auf seinem Optimismus und wurde Tag für Tag eines anderen belehrt. Er war nicht der Herr der Dinge.
Kaum hatte mich Augstein zum Mittagessen eingeladen, da meldete sich die Sekretärin des Chefredakteurs Erich Böhme und bat mich, doch unbedingt nach dem Essen mit Augstein bei Böhme anzurufen. Dieser Anruf wiederholte sich noch zweimal. Unbedingt melden sollte ich mich, sagte mir meine Sekretärin. Unbedingt! Sofort, nachdem ich vom Essen mit Augstein zurückgekehrt wäre.
Das Essen verlief entspannt, locker, wir waren zu zweit. Augstein sagte, dass ihm das Stück gut gefallen habe. Auch die Schauspieler seien erstaunlich gut gewesen. Seinem Auge war natürlich Barbara Auer aufgefallen, die eine junge WG-Lehrerin spielte, die den vollen Jargon und das verklemmt freie Lebensgefühl einer jungen Grünen hinreißend spielte, wenn auch mein Text ihr nicht erlaubte, alles, was sie sagte, so ernst zu nehmen, wie sie es gewollt hatte. Ich parodierte die political correctness, die sie (vielleicht?) vertrat. Ich hatte sie oft bei den Proben gesehen; ein paar Mal war ich mit dem Thalia-Theater-Dramaturgen Horst Laube zu den Endproben nach Osnabrück gefahren. Er wollte das Stück in Hamburg
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