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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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idiotischen Redensart, dass sie einander auf »gleicher Augenhöhe« begegnen (wollen). Jedenfalls haben Reich und Jens vor dem »Quartett« Wochenende für Wochenende stundenlang miteinander telefoniert, zwei Herzen, eine Seele und eine Meinung über den Literaturbetrieb. Ihr Klatsch und Tratsch ergoss sich über andere.
    Erst als Reich-Ranicki »Fernseh-Papst«, Literatur-Papst wurde, ging die Freundschaft rapide den Bach hinunter. Reich-Ranicki hatte im Fernsehen einen Riesenerfolg; Jens liebte das Fernsehen – sogar als Fußball-Experte war er sich nicht zu schade. Aber das Fernsehen erwiderte seine sehnsüchtige Liebe nicht. Was blieb ihm anderes übrig, als das Fernsehen zu verachten, ja zu hassen! Und den TV-Liebling Reich-Ranicki gleich dazu. Es gab viele solche bitteren Erfahrungen für Reich, die ich als Beobachter registrierte. Zum Beispiel das jähe Ende der Freundschaft mit dem Frankfurter Freund Horst Krüger, der wenigstens so offen war, einzugestehen, er könne den plötzlichen Ruhm seines Freundes nicht ertragen.
    Natürlich war ich nicht nur Beobachter. So fragte mich die »Bunte« – und hatte damit sicher gewisse Rang- und Hackordnungen vor Augen, vor gut zehn Jahren –, ob ich nicht neidisch auf den Ruhm von Marcel Reich-Ranicki sei, es sei doch bei uns ähnlich wie bei »Derrick«, wo Fritz Wepper, »hol schon mal den Wagen!«, den Assistenten neben Horst Tappert spielte. Ich also Wepper, Reich-Ranicki Tappert. Und ich erklärte damals in voller Überzeugung, ich sei noch nie auf jemanden neidisch gewesen, der dreizehn Jahre älter sei als ich.
    Damals war das für mich die reine biographische, oder soll man sagen: demographische Wahrheit. Ich war sechzig, Reich dreiundsiebzig, vor mir lag noch das Leben – dachte ich. Inzwischen bin ich siebzig, Reich ist dreiundachtzig und ich weiß zweierlei. Erstens: Der Unterschied von einem Jahr zum anderen wiegt für jeden, der betroffen ist, schwerer. Aber zweitens, und das ist wichtiger: Von einem bestimmten Alter an – und das habe ich jetzt erreicht, so dass wir es beide erreicht haben – spielt man in der gleichen Liga. Vor allem was Wünsche, Erwartungen, Hoffnungen und Verzweiflungen anbelangt.
    1988 aber, als Reich-Ranicki das »Quartett« für das ZDF ins TV-Leben rufen durfte und mich in die Runde holte, wurde für mich in der Tat alles anders. Ich bekam Fanpost, in guten Restaurants immer einen Platz, bei guten Ärzten immer einen Termin, von Kollegen gehässige Verrisse oder hämische Bemerkungen – kurz: Ich bekam Aufmerksamkeit – mit all ihren Segnungen und Flüchen. So passe ich in öffentlichen Waschräumen höllisch auf, sie möglichst in einem besseren Zustand zurückzulassen, als ich sie vorgefunden habe. Es könnte mich sonst jemand, der mich erkennt, öffentlich anschwärzen.
    Lassen wir das abgehakt. In jedem von uns steckt ein Elch! Jeder Mensch möchte um seiner selbst geliebt werden. Obwohl? Wirklich? Und niemand möchte gehasst werden. Nicht einmal aus Neid!
    Walser hat in seinem »Tod eines Kritikers« das »Quartett« voller Hass und Hohn geschildert – es sind die besten Stellen eines an besten Stellen leider armen Buches, Da zelebriert der Literaturpapst eine Hohe Messe der Eitelkeiten, alle anderen im Staube vor ihm. Aus dem Blickwinkel des »Opfers« – Walser lechzte zwölf Jahre lang nach der ihm gebührenden Anerkennung aus dem Mund Reich-Ranickis, das erkennt man noch in der popanzhaften Verzerrung – mag das so gewesen sein. Aber wir in der Sendung, in jeder Sendung, hatten wahrscheinlich ebenso große Angst wie unsere potentiellen Opfer. Das Fernsehen ist ein Moloch. Und deshalb war da nichts von Selbstherrlichkeit – so absurd es klingen mag: fast am wenigsten bei Reich-Ranicki.
    Er war vor jeder Sendung vor Nervosität wie aufgefressen und gestand mir, dass er vor Sendungen, wo es um folgenschwere Urteile ging – wie beim Buch von Ulla Hahn – Nächte vorher nicht schlafen konnte und unter Bluthochdruck litt. Es waren für ihn keine zelebrierten Messen mit Weihrauch für das Ego, sondern strenge Prüfungen – immer mehr auch Prüfungen, ob er den Kampf gegen das Alter, den man nicht gewinnen kann, noch weiter führen könnte.
    Als Walser seinen »Tod eines Kritikers« als Gedankenmordphantasie feierte, gab es das »Quartett« nicht mehr, Reich hatte aufgehört. In der FAZ, der Walser seinen Anti-Reich-Roman zum Vorabdruck offeriert hatte, begründete Frank Schirrmacher in einem offenen Brief, warum

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