Auf der Flucht
er das Buch ablehnen musste. Es war der letzte Skandal, den das »Quartett« bewirkte. Schirrmacher nannte beim Namen, was das Buch zum Skandal machte: Antisemitismus auf Richard Wagners unseligen Spuren, der das »Schöpferische« dem »Bodenständigen« zuordnet und die unschöpferische Kritik, also das »Zersetzende«, dem Heimatlosen. Viel schlimmer könne, so Schirrmacher, man sich nicht im Ton und im Thema vergreifen.
Ich verstehe, dass Walser, der ein Leben lang die Tatsache, dass Böll und Grass und nicht er den Nobelpreis bekommen haben, auf die widrigen Umstände, das heißt, auf die Kritik schob, sich von einem übermächtigen Kritiker wie M. R. R. mit einer Orgie von Wut und unterstellendem Hass befreien wollte – aber was ich nicht verstand, ein für alle Mal, dass er sich für seinen Hass das schäbigste vorhandene Ventil wählte – den kaum noch unterschwellig zu nennenden Antisemitismus.
Walsers »Tod eines Kritikers« war das Buch, das das Maß voll machte. Ich las es, fassungslos vor Enttäuschung.
Auch dazu muss ich ausholen, mich zurückversetzen in den Spätsommer 1967, als ich eines Tages in München mit Hans Werner Richter über die verwinkelten, nasskalt zugigen Höfe des Bayerischen Rundfunks ging, um irgendein Zwiegespräch über die »Gruppe 47« vor angeschaltetem Mikrofon zu führen, das kaum jemand hören würde. Kultur im Radio und Fernsehen war damals noch Selbstzweck; das Wort »Quote« ein Fremdwort, das sich Intellektuelle nicht in ihre Wahrnehmung der Realität übersetzen wollten. Richter war dabei, die Tagung in der Fränkischen »Pulvermühle« auszurichten, und sein Jagdinstinkt auf neue attraktive Autoren, mit denen er die Tagung auffrischen, aktuell aufmöbeln könnte, war hellwach. Zufällig trafen wir auf dem Hof oder den zugigen Gängen des BR zwei Schriftsteller, die nicht mehr der Generation der »Gruppe 47« angehörten. Den ersten kannte nur ich, weil ich es damals mit dem zeitgenössischen Theater zu tun hatte. Und so stellte ich, während wir vom Taxi kamen und er zum Taxi ging, Franz Xaver Kroetz dem inoffiziellen Gruppenboss Richter vor. »Ah!«, sagte er und ich sagte, Kroetz sei der wichtigste zeitgenössische Dramatiker und was man so sagt als »Zirkulationsagent«. Und Richter sagte wieder »Ah«, fixierte Kroetz und sagte hastig, ob er denn nicht Lust habe, am nächsten Wochenende zur Tagung der Gruppe zur »Pulvermühle« zu kommen. Ich glaube, Richter war es damals gewöhnt, dass ein Autor, derart spontan eingeladen, sich vor unfassbarem Glück kaum zu halten weiß, wie heute jemand, dem man sagt, er dürfe in »Deutschland sucht den Superstar« oder bei Sabine Christiansen auftreten. Aber Kroetz reagierte keineswegs begeistert, eher reserviert. »Ja, schau mer mal«, sagte er, »wenn's geht, komm ich gern, vielleicht.« »Awa«, fügte er nach einer Pause hinzu, »aber«, er fürchte, dass er keine Zeit habe.
Richter ließ sich, so gut es ging, nichts anmerken. Und als wir kurz darauf, inzwischen auf dem Flur des Senders, Peter Handke trafen, den Richter sehr wohl von seinem spektakulären Auftritt in Princeton noch in Erinnerung hatte, fragte er ihn, warum er, Handke, auf seine, Richters, Einladung in die Pulvermühle nicht reagiert habe. Handke machte ihm schnell unmissverständlich klar, warum er nicht geantwortet habe und warum er keinesfalls kommen wolle. Wenn er sich vorstelle, dass vor ihm, in der Reihe der Kritiker, wie in Princeton Marcel Reich-Ranicki sitze, dem er in den Nacken schauen müsse, während der laut rede, mündliche Kritik, dann sei ihm jetzt schon schlecht. Nein, danke, vielen Dank!, sagte Handke. Und dass er nicht kommen wolle. Keineswegs.
Ich hatte das damals eher als Zeichen der Götterdämmerung der »Gruppe 47« gedeutet, und ich dachte bei der angeekelten Haltung von Handke, als er sich ausmalte, was ihn auf der Tagung und bei den Lesungen erwartete, eher an den armen Hans Werner Richter, dessen bräsige Selbstzufriedenheit unter den schnöden Absagen von Kroetz und Handke zu bröseln schien.
Aber ich sollte eines Schlimmeren belehrt werden. Ich las 1980 Peter Handkes »Lehre der Sainte-Victoire«, ein, wie ich heute meine, etwas verschwärmtes Porträt des Schriftstellers, der sich mit Bescheidenheit tarnt auf der Suche nach seinem »Sanften Gesetz« (Adalbert Stifter), während er in der Provence zu dem Berg wandert, den Cézanne so eindringlich gemalt hat. Den Frieden, die Ruhe des in innerer Einkehr wandernden
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