Auf der Flucht
Und so fragte mich Schirrmacher mitten in unserem kurzen Gespräch abrupt, hinter einem fragenden Grinsen: »Sagen Sie, Herr Karasek, bedrückt es Sie nicht, dass Sie mit der Teilnahme an ein paar Sendungen des literarischen Quartetts‹ auf einmal einen höheren Bekanntheits- und Aufmerksamkeitsgrad haben als mit jahrzehntelangen Arbeiten als Theater- und Literaturkritiker bei der Stuttgarter Zeitung‹, bei der ›Zeit‹ und beim ›Spiegel‹?«
Schirrmachers Frage war gewiss nicht von Neid oder gar Missgunst diktiert, denn er hatte als jüngster Herausgeber in der Geschichte der FAZ eine so steile Karriere gemacht, dass er eher beneidet wurde, als andere beneiden musste. Und vielleicht sagte er auch nicht, ob es mich »nicht bedrücke«, sondern ob es mir nicht »Grund zum Nachdenken« gebe. Ich habe ihm diese Frage nicht verübelt, ich nahm sie als Rollenprosa, ich hätte sie ihm, wäre er beim »Quartett« gewesen und ich weiterhin Rezensent eines edlen Feuilletons, genauso gestellt. Es war eine Frage nach der Gerechtigkeit der Welt, eine Frage nach der Gerechtigkeit der Welt der Kultur, die unsereiner immer wieder stellt: Es ist wohl der uns innewohnende Gerechtigkeitssinn, der eine Art deformation professionelle darstellt; Futterneid, Hackordnungen bestimmen unser Leben, weil wir wollen, dass es in der Welt gerecht zugehe. Wie sagt Hamlet auf die Behauptung von Polonius, er würde die Schauspieler nach ihren Verdiensten behandeln? Er sagt: Behandle sie besser! Denn »wenn ihr einem jeden begegnen wolltet, wie er's verdient, wer würde dem Staup-Besen entgehen?«.
Ich weiß daher auch nicht mehr, was ich geantwortet habe. Wahrscheinlich habe ich mit einem Achselzucken gelächelt, was so viel ausdrücken sollte wie: »So ist die Welt!« Oder mit einem noch größeren Achselzucken: »Die Welt will betrogen sein!« Ich musste auch nicht wirklich antworten, weil Frank Schirrmacher mir eine rhetorische Frage gestellt hatte, die in Wahrheit seinem Mentor und Vorgänger Marcel Reich-Ranicki galt, der, obwohl im Ruhestand, einen gewaltigen Schatten über alle in seiner Nähe warf.
»Stellen Sie sich vor!«, fragte mich Schirrmacher eigentlich (so vermute ich jedenfalls), »da macht einer über ein Jahrzehnt den besten, ausführlichsten, gründlichsten, aufregendsten Literaturteil in der deutschsprachigen Zeitungslandschaft – eindeutiger kann man nicht opinion leader auf diesem Felde sein, da gewinnt und entwickelt einer einen Stab ausgezeichneter, qualifizierter Rezensenten, pflegt und kultiviert die Zusammenarbeit mit ihnen zu einem die zeitgenössische Literatur überspannenden Netz aus Information und Qualität; da schafft einer Woche für Woche in der Frankfurter Anthologie einen Born deutscher Lyrik, setzt sie zeitgenössischen Deutungen aus. Und was passiert? Berühmt mit einem Schlage wird er erst, wenn er sich mit Ihnen oder Jürgen Busche oder Sigrid Löffler im Fernsehen über Bücher rauft. Ist das gerecht und in Ordnung? Und wie sollen wir, die wir seine eigentliche Arbeit fortsetzen, hier und jetzt und in der FAZ, uns dazu verhalten!«
Ich bin kein allwissender Erzähler und daher weiß ich nicht, was Schirrmacher sich wirklich dachte. Übrigens schrieb die erste Rezension der ersten »Quartett«-Sendung, als Gast aus der SZ, Joachim Kaiser. Er gab der Sendeform (man nannte sie damals noch nicht »das Format«) keine Zukunft. Fernsehen, das ist nun wirklich nicht das Niveau, auf dem man Literatur diskutieren sollte!
Marcel Reich-Ranicki kannte diese Haltung der Kollegen schon aus Zeiten der »Gruppe 47«, aus Zeiten, als er berühmter Radio- und Fernseh-Diskutant war, und natürlich aus Klagenfurt, vom Bachmann-Preis. Wer das große Sagen hat, hat viele Neider, die eigentlich nie das große Sagen haben wollen, um Gottes willen! Die aber, wenn sie es dann doch haben, vergessen, dass sie ganze Pamphlete gegen »Großschriftsteller«, gegen »Großkritiker«, überhaupt gegen Marktschreier verfasst haben – als sie nämlich noch im stillen Kämmerlein saßen. Notgedrungen. Es hat sich darauf keiner einen besseren Reim gemacht als F. W. Bernstein: »Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche!«
Natürlich haben solche Gefühle auch Auswirkungen auf Freunde und Kollegen. Sicher ist die Freundschaft zwischen Walter Jens und Reich-Ranicki daran für lange zerbrochen. Neid zerstört jede Beziehung. Deshalb versichern sich die Politiker neuerdings gerne mit einer ziemlich
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