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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Weg nach Westen in Groß-Ullersdorf, einem Schwefelbad am Fuße des Altvater-Gebirges in Nordost-Mähren. Dort hatte mein Vater, der immer noch im Kreis Teschen die Stellung hielt und in der Slowakei Panzersperren bauen ließ, aus der Ferne für uns Plätze in einem noch intakten Heim für werdende Mütter mit vielen Kindern besorgt.
    Scheinbar war das eine Idylle, Heime in ehemaligen Kurhotels und Kurheimen, die verstreut in bergiger Landschaft lagen, hinzu kam der Vorfrühling, der den Schnee für Flecken jungen Grüns schmelzen und die Birkenzweige zaghaft ergrünen ließ. Gelb blühten die ersten Sträucher, es war Vorosterzeit und ich kam in ein Heim für meine Altersgruppe, für Zehn- bis Vierzehnjährige. Ich erinnere mich, dass ich sogar ein Fahrrad benutzen durfte, mit dem ich einmal von dem steilen Hügel nach unkontrollierter Schussfahrt böse gestürzt bin. Und dass wir bei der ersten Helle des Morgens der Sonne entgegenzogen. Ich meine mich zu hören, wie ich alleine auf einem sonnigen Flecken zwischen den Bäumen eines Wäldchens gesungen habe: »Der Morgen, das ist meine Freude / Da steig ich in stiller Stund / Auf den höchsten Berg in die Weite / Grüß dich Deutschland aus Herzensgrund.« Und wie ich dann den Refrain wiederholte: »Auf den höchsten Berg in die Wei-ei-te / Grüß dich Deutschland (und hier ging die Stimme hinunter) aus He-er-zensgrund.«
    Wir hatten zu essen, geregelte Mahlzeiten. Ich durfte bei Tisch neben der schönen, großen, blonden Schwester Dagmar sitzen, die mich, wie mir schien, mit Wohlgefallen ansah, weil sie wohl merkte, mit welcher Lust ich ihren Blick und mit welcher Erwartung ich ihre Nähe suchte. Einmal aber las sie bei Tisch einen Feldpostbrief und entzog mir ihre Aufmerksamkeit. Eifersüchtig habe ich heimlich den Brief mitgelesen, in den sie beim Essen so vertieft war, dass sie den Löffel mit dem Haferbrei nur zerstreut in den Mund schob. Und voller gekränkter Liebe habe ich am gleichen Nachmittag meinen gleichaltrigen Heimgefährten voll hohnvollem Schmerz Zärtlichkeiten und Diminutive (Herzlein, Häschen, Küsschen) aus dem Brief zitiert.
    Die Folgen waren fürchterlich. Schwester Dagmar sah mich am Abend vorwurfsvoll wie einen Verräter an und gab mir einen anderen Platz am Tisch – weit von sich weg. Ihre Nähe habe ich nie mehr gefunden, obwohl ich meinte, dass mir ihre Blicke sagten, sie hätte mir nicht nur verziehen, sondern sie verstünde im Grunde auch, warum ich zum Verräter hätte werden müssen. Vielleicht, so meinte ich, hatte sie meinetwegen und wegen ihrer Zuneigung zu mir auch nur ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem tapfer an der Front gegen die Russen kämpfenden »Verlobten«, und meine Bestrafung durch das Wegsetzen wäre in Wirklichkeit nur eine Selbstbestrafung.
    Während meine Mutter sich den schon verlorenen Krieg noch schön zu lügen suchte, indem sie in den Meldungen nach irgendeiner Hoffnung stocherte, log ich mir meine Strafversetzung von Dagmar schön.
    In Wahrheit aber war alles ganz und gar fürchterlich. Als wir in Bad Ullersdorf ankamen, wurden wir, wie gesagt, nach Altersgruppen getrennt und in Heime verlegt. Mein fünfjähriger Bruder Horst und meine vierjährige Schwester Ingrid sollten zusammenbleiben. Ich war dabei, als sie von meiner Mutter weggeholt wurden. Mein Bruder schrie wie in Todesverzweiflung, riss sich immer wieder von den Schwestern los, warf sich auf die Wege, versuchte, zwischen die Bäume zu fliehen. Es war eine herzzerreißende Szene. Und Ingrid, die darüber tapfer ihren eigenen Schmerz vergaß, versuchte ihn zu trösten, ihn zu umarmen, während er wie wild um sich schlug. Meine Mutter wusste nicht ein noch aus, sie dachte wohl an das Kind in ihrem Bauch, das sie auch schützen musste, an ihre kleine einjährige Tochter Heidi, die bei ihr bleiben durfte, hoffte auf meine Hilfe, drückte mich an sich. Horst war inzwischen außer sich vor Wut und Verzweiflung. Ich werde den Park, in dem er sich immer wieder losriss, um schreiend wegzurennen, so als gelte es, das Leben zu retten, nie vergessen.
    Ingrid hat mir viel später von den gemeinsamen Tagen mit Bruder Horst erzählt, wie er sich einnässte, wie er immer wieder wie von Sinnen geschrien und um sich geschlagen habe. Da war mein Bruder schon tot. Er war ein herzgewinnender Anarchist geworden, übermütig, herzensgut, in keine Ordnung zu fügen. Seine schwere Krankheit, er hatte beide Nieren verloren und blieb nur durch die Dialyse am Leben, was

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