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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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dachte, dass es mir recht geschehe, ich hätte wohl das dauernde Trenn-Spiel überzogen. Dann sagte sie etwas Merkwürdiges, das ich aber in meiner Enttäuschung fast überhörte. Sie sagte, ich würde das später verstehen.
    Am Montag erfuhr ich, dass die Familie nach »dem Westen gemacht« habe. Sie seien geflohen. Aus Düsseldorf schrieb sie mir dann einen Brief: »Bitte versteh, dass ich Dir am Telefon nicht sagen wollte, warum ich Dich nicht mehr treffen konnte.« Meine Mutter fand diesen Brief gefährlich. Wenn den »jemand« gelesen hätte. Die lesen doch alle Briefe aus dem Westen. Ich hielt das für übertrieben. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.
     

»Lullaby of Broadway«
     
    Es muss im Frühjahr 1947 gewesen sein, es war Vormittag und ich hatte schulfrei oder war gerade aus der Schule gekommen, da hörte ich aus dem Radio in der Wohnküche, die mir besonders schön vorkam, weil sie von Sonnenlicht durchflutet war und weiße Wände hatte, zum ersten Mal ein Lied, das »Lullaby of Broadway« hieß. Ich hörte eine deutsche Version und eine Frau sang »Was ist denn in New York gescheh'n? Um Mitternacht am Broadway« mit dem Refrain »Good-bye, Baby, du siehst reizend heute aus. Good-bye, Baby, heute bring ich dich nach Haus«. So jedenfalls hat sich mir der Text bis heute eingeprägt. Und vielleicht hieß die Sängerin Rita Paul. Das Mädchen, das vorher erklärt hatte, warum sie fast unbekleidet um Mitternacht am Broadway zu sehen sei, nämlich weil sie für Seidenwäsche Reklame mache, war für mich wie ein Signal aus einer anderen Welt.
    Weil die Sonne schien und wir bald nach Bernburg umziehen würden und weil das Radio auf einer Konsole stand, die mein Vater liebevoll selbst getischlert hatte, von goldenem Licht umflossen wie eine Monstranz, und weil das Lied irgendeinen leichtsinnigen Unsinn zum Inhalt hatte, und weil es von gleichzeitig stampfenden und tänzelnden Rhythmen vorangetrieben wurde, mit viel Trompeterblech, viel Saxophon-Sound, viel Schlagzeug (ich kannte damals weder das Wort »Swing« noch den Ausdruck »Bigband«), ergriff mich eine gleichzeitig übermütige und sentimentale Stimmung. Worte wie »New York«, »Broadway«, »Baby«, »Good-bye Baby« übten einen seltsamen Sog auf mich aus, der mich wegzog, aus der Wirklichkeit, in der ich mich befand, hinzog in eine andere Welt, von der ich nichts wusste – außer dass sie durch ihre Musik das Ziel meiner Wünsche war.
    Einen Augenblick lang hatte ich das aberwitzige und übermütige Gefühl, dass die Zeit mit Krieg, Nachkrieg und Elend, dass die ewig graue Zeit der Entbehrung zu Ende wäre. Ich liebte meinen Vater dafür, dass er uns hierher gebracht hatte durch seine Bergwerks- und Tischlerarbeit und dass er uns auch bald von hier fortbringen würde, und ich liebte meine Mutter, die allein mit mir in der sonnendurchfluteten Küche stand (wo meine kleinen Geschwister waren, weiß ich nicht), weil sie mir so gut gelaunt und optimistisch schien. Und das musste an dem Lied liegen, obwohl sie dem gar nicht zuhörte und »diese Art von Musik« auch gar nicht mochte. Und ich dachte einen Augenblick, jetzt wird »alles gut«! Ohne dass ich es wusste, hatte meine Sehnsucht von da an ein Ziel: den von rhythmischer Swingmusik verkörperten Broadway in New York. Aber ich brauchte gar nicht wirklich nach New York zu kommen. Es würde genügen, in den Teil Deutschlands zu kommen, wo es diese Musik gab.
    Das alles konnte ich damals überhaupt nicht artikulieren oder gar in konkreten Umrissen denken, ich erinnere mich nur, wie mir froh und leicht zumute war, als der Volksempfänger diesen Schlager spielte. Und dass ich eine Zukunft sah, die nichts mit dieser rückwärts gewandten Sehnsucht nach dem Plüsch und Glanz der k. u. k.-Operetten zu tun hatte. Jedenfalls habe ich diesen sonnendurchfluteten Vormittag mit dem Bigband-Sound nie vergessen, obwohl doch sonst an diesem Tag, nach diesem Augenblick nichts passiert ist.
     
    Als ich nach Bernburg kam, habe ich mich jeden Morgen kurz vor sechs Uhr nach vorne in unser Ess- und Wohnzimmer geschlichen, in dem unser Radio stand. Wir wohnten damals in den hinteren drei Zimmern einer heruntergekommenen gutbürgerlichen Wohnung. Auf halber Treppe war das Klo. Das Bad war dem Krieg zum Opfer gefallen, übrig geblieben war eine Waschbecken-Installation am Ende unseres Wohnungsteils. Im Zimmer nebenan, in der Mitte der Wohnung, wohnte eine uralte Dame, Frau von Förster, die ich eigentlich nie zu

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