Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
Römerbrücke, eine honiggelbe Festung mit dem gewaltigen Glockenturm und der mächtigen barocken Kuppel über dem Zuckerwerk hunderter Strebebögen und Fialen. Ein Netz von kleinen und kleinsten Türmchen ist über die Kathedrale gegossen, Spätstil der Gotik aus dem 16. Jahrhundert. Ich schlendere müde, aber gelassen, die Rampe vom Fluß in die Oberstadt, vorbei an den irrwitzigen Portalen des Westwerks – das werde ich Morgen alles sehen. Die lange Rúa Mayor saugt mich auf, die Kühle des frischen Abends zieht mich auf die gewaltige Plaza Mayor, dieses Gemisch aus lauter gleichen Fensterachsen, hunderte von ihnen verbunden mit umlaufenden Balkonen und Arkaden. Diese Plazas kenne ich schon von Bilbao und San Sebastián, Treffpunkt Tausender von Menschen in den kühlen Abendstunden, ein ruhiger Hort im Verkehrsgewühl der Altstadt, blaue Stühlchen unter Arkaden, grüne, gelbe, weiße.
Das Rathaus ist heute geflaggt, die Standarten der Stadt, Kastiliens und Spaniens hängen gelb auf rubinrotem Grund vom Balkon. Die Feuerwehr ist aufgefahren, eines der vielen Feste, die die Spanier so gern feiern, mit Trompeten, Posaunen, Trommeln und Flöten, markigen Ansprachen von hohen Balkonen. Bald verläuft sich das Spektakel, die Ruhe kriecht wieder über den Platz, die nächtliche Fassade glüht im goldenen Licht der Scheinwerfer. Um mich ein Gewimmel von Menschen, Einheimischen, Studenten, Touristen. Kühle, Geborgenheit. Ich bin heimgekehrt in die Welt der Menschen. Welch ein Gegensatz immer wieder: heute Vormittag noch über sonnenverbrannte, menschenleere Steppe, und jetzt in der Umarmung der großen Stadt. Ich bin heimgekehrt aus der Wildnis in die Geborgenheit der menschlichen Kultur. Die zwei Seiten des Lebens. Ein schmaler Mond steht am nachtdunklen Himmel, die Figuren auf den Balkonen ragen golden in die Schwärze der Nacht. Und wieder ist alles vergessen von den Schmerzen des Tages und der Wut und der Verzweiflung.
Catedral Nueva
Mittwoch, der 31. Mai, Salamanca
Ruhetag
Ich bleibe bis um acht Uhr in meinem gemütlichen Privatzimmer. Heute muß ich nicht mehr unter Schmerzen über die glühende Steppe laufen, heute habe ich einen Ruhetag. Ich pflege meine Beine, ziehe den neuen Stützstrumpf über, den ich gestern gekauft habe, trinke mein entzündungshemmendes Pulver, das mir die Apothekerin empfohlen hat. Ich fahre mit dem Bus in die Stadt, Linea Numero 1, der hält ja genau gegenüber der Jugendherberge, wie ich jetzt weiß. Morgens ist noch wenig Verkehr, die Spanier stehen spät auf, dafür gehen sie abends auch spät zu Bett. Es sind fast nur Touristen unterwegs, Kulturtouristen, die andächtig mit dem Führer in der Hand die Sehenswürdigkeiten bestaunen. Pilger sehe ich keine.
Neugierig schlendere ich durch die Straßen der honiggelben Stadt. Heute bin ich auch Tourist mit Kamera, kein Pilger mehr mit Rucksack und Pilgerstock.Gleich hinter der Plaza Mayor, hinter dem großen Portal in der Ecke hinter den Kolonaden liegt San Martín, eine romanische Kirche mit gotischem Netzgewölbe. Sie wurde als erste christliche Kirche im 12. Jahrhundert von den Rückeroberern erbaut. In der Kirche entdecke ich wieder die schlafenden, steinernen Ritter in ihrer Rüstung mit dem Schwert an der Seite, liegend auf steinernen Kissen zu ewigem Schlaf, ihren Lieblingshund zu ihren Füßen. Ich sah sie zum ersten Mal vor zwei Jahren auf der Via Podiensis in Südfrankreich. So weit erstreckte sich im Mittelalter die gotische Kunst, die sich über die Jakobswege von Norden nach Süden verbreitete.
Die Rúa Mayor hinunter mit ihren schweigenden Patrizierhäusern entdecke ich an der Ecke ein seltsames Haus. Ein gotischer Palazzo aus glatt gefugtem Sandstein, der über und über mit steinernen Jakobsmuscheln beklebt ist. Wie Katzenspuren tanzen sie die Fassade hinauf bis zur Dachtraufe, von Platte zu Platte in die Fugen geklammert. Es sollen mehr als 300 sein. Dies ist die berühmte Casa de las Conchas des Don Rodrigo Árias, der im 15. Jahrhundert dem Orden des Heiligen Jakob angehörte.
Die glatte, sonst schmucklose Fassade durchbrechen nur einige reich verzierte gotische Fenster, zwei davon umkleidet mit kunstvollen, braunen Eisenkäfigen, ein Erbe aus der maurischen Zeit, wo die Haremsdamen, von der Welt draußen unbemerkt, hinter den Gittern verborgen, dem Treiben auf der Straße zuschauen durften. Wieder durchdringen sich Abend- und Morgenland in diesem Teil Spaniens.
Gegenüber wuchtet die Renaissancefassade La
Weitere Kostenlose Bücher