Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
zu Füßen der großen Mutter liegt. Die Bauarbeiten zogen sich über Jahrhunderte hin.
Es begannen Juan Gil de Hontanos und Juan de Álava im spätgotischen Stil, Rodrigo Gil de Hontanos, ein Sohn des Juan, setzte das Werk seines Vaters fort und führte dabei Renaissanceelemente ein. Am Ende des 16. Jahrhunderts übernahm Juan de Ribero das begonnene Werk, der ein Westwerk mit zwei Türmen vorschlug, die aber nie gebaut wurden. Das Erdbeben von Lissabon verursachte 1755 große Schäden, der Turm mußte gestützt und ein neues Kuppelgewölbe errichtet werden, da das alte eingestürzt war. Oben drauf wurde dann über dem gotischen Gewölbe die barocke Kuppel errichtet.
An der Hauptfassade türmt sich Bogen über Bogen. Über Christi Geburt und der Anbetung der Heiligen drei Könige im Tympanon über den Doppeltüren schwingen sich flammensprühende Bögen in dutzendfacher Wiederholung wie ein gewaltiger Choral bis unter den Gekreuzigten auf 30 Meter Höhe. Faszinierend ist der Rundgang unterhalb des Daches in der Welt der Strebebögen und Fialen. Wie in den Carceri des Piranesi schwingen sich Gänge um die Fialen in hundertfacher Anzahl herum und ducken sich unter ebenso viele Strebebögen. Jedes Teilchen hier auf dieser Höhe, 40 Meter über der Straße, ist mit einer unglaublichen Perfektion bis ins Kleinste modelliert, auch wenn es nie von Nahem zu sehen war. Alles zur Ehre des Höchsten Gottes, ein Werk für den Allergrößten gemacht, nicht für die sterblichen Menschen. Die vergleichsweise winzige Kuppel der Catedral Vieja, auf deren Höhe das neue Längsschiff erst beginnt, kann ich mit den Händen fast berühren.
Ich tauche in das mystische Halbdunkel der Alten Kathedrale, diese schon so groß wie bei uns ein Dom. Durch die Gewölbe perlt die traumhafte Musik von Jan Garbarek mit Gregorianischen Gesängen: „Officium – pace mihi domine“. Heute will mich Santiago verzaubern, erlösen von der Qual des gestrigen Tages. In der halbrunden Apsis entdecke ich 55 – 5 mal 11 übereinander – bemalte Bildchen mit der Leidensgeschichte Christi, gemalt 1445 von Nicolás Florentino, schreiend bunt mit viel Gold. Die einfachen, ungebildeten Menschen des Altertums hatten es gern naturalistisch aus ihrem bekannten Leben, Abstraktion war ihnen fremd und unverständlich. In der Halbkuppel droht das Jüngste Gericht, der Schrecken des Mittelalters, links die Seligen in weißen Gewändern, rechts die Verdammten, nackt und rosabloß, wie sie in den tomatenroten Rachen eines froschgrünen Drachen getrieben werden. Die Nischen sind ebenfalls bunt ausgemalt mit schlafenden Äbten und Äbtissinen, die Sarkophage von drei Löwen getragen.
Rings um den Kreuzgang verschiedene gotische Kapellen mit apokalyptischen Gemälden, die an realistischer Deutlichkeit nicht zu überbieten sind: Die Heilige Barbara trägt ihre abgeschnittenen Brüste auf einem Silbertablett, gekleidet in ein Goldbrokatgewand einer adligen Dame. Die Virgen de la Leche – die Jungrau von der Milch – säugt ihren munteren Jesusknaben, der uns dabei fröhlich anblickt. Auf einem Tryptichon bewirkt eine andere Heilige das Zerbrechen hölzerner Räder, die außen mit Messern bestückt sind und gefangenen Christen, die von finsteren Mohren mit Turban gehalten werden, die Köpfe abschneiden, wie bei einem Mühlrad: ein Messer ein Kopf, ein Messer ein Kopf, und so weiter, die Köpfe rollen ins grüne Gras, die kopflosen Körper werden noch von den Mohren gehalten.
In der Mitte thront sie als Heilige, wie die Maria, vor den Marterrädern, rechts wird ihr selber zur Strafe der eigene Kopf abgeschlagen, der ohnmächtig zur Seite sinkt. Der Hals ist erst halb durchgeschnitten. In der Capilla Santa Catalina stehen vier Heilige in Doppelreihen lebensgroß hintereinander, lebensecht bemalt. Rechts die Padres de la Iglesia de Oriente, schwarz gekleidet und barhäuptig, links die Padres de la Iglesia Occidente, in rot mit dem Bischofshut auf dem Kopf.
Warum die Touristen nur immer lärmen und kichern müssen, wo man doch andächtig sein sollte in diesen heiligen Räumen? Ich bete vor der weißen Madonna und zünde drei Kerzen an für meinen Weg und meine Schmerzen. Ein Franzose fotografiert die Madonna mit seinem Handy und zeigt das Bild gleich stolz seiner Frau, die das Abbild bewundert, wo das Original doch vor ihnen steht. Eine verkehrte Welt, das Bild verdrängt die Wirklichkeit. Die Krankheit unserer Zeit.
Am Ende entfliehe ich der Kathedrale mit soviel
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