Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
realistischer Grausamkeit und kehre auf die stille Plaza zurück. Aber da herrscht jetzt ein ohrenbetäubender Lärm. Für eine Show am Wochenende werden Stahlrohrgerüste aufgebaut. Aus ist es mit der stillen Romantik von gestern. Heute herrscht spanische Lust am Lärm und das bis zehn Uhr nachts. Da man morgens spät aufsteht nach der Feierei bis in die späte Nacht, fängt man auch nicht so früh an zu arbeiten und arbeitet lieber bis spät in die Nacht, um dann morgens wieder spät anzufangen usw. So ist das spanische Leben!
Von meinen Freunden der letzten Tage sehe ich niemanden mehr. Ich vermute, daß sie, so wie ich sie kennengelernt habe, heute morgen im Eildurchgang Salamanca besichtigt haben und heute nachmittag bereits weiter gelaufen sind. Bravi, so kann man das auch machen. Solche Menschen schaffen es einfach nicht, bei einem Vino stundenlang auf der Plaza zu sitzen und zu lesen, zu schreiben oder einfach nur zu träumen und zu leben.
Plötzlich steht doch noch Marguerita neben mir am Tisch. Sie wohnt in einer Privatherberge in der Innenstadt. Wir freuen uns, uns wiedergefunden zu haben und erzählen. Marguerita fängt gleich an zu schwärmen, wie schön doch dieser Platz sei und wie schlimm, daß es so etwas in Deutschland nicht gebe. Das stimme doch nicht, sage ich und erinnere sie an den Viktualienmarkt und die Theatinerstraße in München, an Freiburg, Düsseldorf und Münster. Sie läßt nichts gelten, München sei ein großes Dorf, alles ohne Kultur, ohne Atmosphäre, ohne Tradition. Im Süden sei alles schöner. Marguerita hat diese linksintellektuelle, alternative Denke, nach der alles in Deutschland beschissen, zubetoniert, provinziell ist, die Luft verpestet, die Flüsse verseucht. Nur anderswo, da ist alles besser. Die heimatlosen Gesellen, ohne Wurzeln, ohne Stolz auf ihre Nation. Diese Menschen hocken in ihren Großstadtwohnungen, Sommerfeste werden auf Bänken in den Straßen gefeiert, Stadtneurotiker, die nie in Gottes freie Natur gehen. Dabei brauchen sie nur eine Stunde hinauszufahren aus ihren beklagten großen Städten und sie finden die herrlichste, schönste Natur, unbefleckt, unverpestet, unverbaut. Sie aber suchen das Schöne, Edle, Gute immer nur außerhalb ihres Landes, ihr eigenes verachten sie, weil sie nie gelernt haben, es zu lieben. Sie verbreiten nur ihren Pessimismus, haben aber bereits ihr Häuschen in der Toskana oder der Provence, wo ja alles so viel schöner und unverdorbener ist als in unserem verdreckten Land. Sie hat auch gleich eine Erklärung dafür parat: Schuld daran ist das Großkapital und die Industriebosse. Ihnen gehören die Macht und das Geld. Und deshalb gehören ihnen ihre Macht und ihr Geld abgenommen und neu verteilt an die, die nichts besitzen, auf daß unser Land alsbald schöner, sauberer und gerechter werde. Immer wieder schlägt dieser Uraltkommunismus wieder durch und zwar bei den Bürgersöhnchen und Töchtern, die selbst alles haben und meinen, sich mit den Besitzlosen verbrüdern zu müssen.
Marguerita fährt morgen nach Ciudad Rodríguez, in Salamanca ist es ihr wieder einmal zu „touristisch“. Dann geht sie kurz und knapp, verabschiedet sich ohne große Gefühle, die sind ihr sowieso zuwider. Wie mich diese Typen ankotzen, die keine Heimat haben und deshalb auf ihr eigenes Land immer spucken und herumhacken und ständig vor sich und den anderen davonlaufen. Nun bin ich ganz allein. Alle, die ich kannte, sind weg.
Heute ist es laut auf der Plaza. Die Gerüstbauer hämmern lustig auf die eisernen Stangen. Ich fliehe auf ein kleines Plätzchen, wo um neun Uhr noch die letzte Sonne hereinscheint und kein eiskalter Wind weht wie auf dem großen Platz. Ich esse Revueltas mit Gambas und Knoblauch, trinke dazu einen frischen weißen Wein und bekomme endlich einmal ein knuspriges Weißbrot. Man wird als Pilger einfach bescheiden und freut sich wie ein König über diese einfachen Dinge.
Und doch kehre ich noch einmal auf meine geliebte Plaza zurück. Noch zwei Brandy und meine Abendzigarre. Der Himmel ist schwarz wie gestern, ein dunkles Tuch, durchstoßen von den Tausenden von Sternen, die wie kalte, eisglitzernde Diamanten unbeweglich über dem Viereck der Wände stehen. Der Zauber von gestern ist heute aber verflogen, es gibt keine Beleuchtung der Fassaden und die Gerüstbauer lärmen bis um zehn Uhr.
Die Piste in das Nichts
Donnerstag, der 1. Juni, von Salamanca
bis Calzada de Valdunciel, 15,8 Kilometer
gesamt 516,8 Kilometer
24.
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