Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
wie Franz von Assisi gesagt hat. Nur der schweigende, blaue Himmel wölbt sich über mir, der Wind streicht durch mein Haar, die Sonne streichelt meine Haut. Hunger, Durst und Hitze sind meine Sorgen, Schmerzen meine Katastrophen, Erschöpfung mein Unglück.
Aber ein tiefes Glück erfüllt mich den ganzen langen Tag, von den feuchten Nebeln des Morgens, den Strahlen der Mittagssonne bis zur Hitze des Spätnachmittags. Gewiß, es sind „Kleine Fluchten“, wie der unvergessene Schweizer Film sie das erste Mal darstellte, kleine Fluchten, vier Wochen lang, sechs Wochen, acht Wochen, von denen ich dann wieder gerne in meine bürgerliche, geborgene Welt zurückkehre. Aber sie sind es wert zu fliehen. Ich habe den Atem der Freiheit gespürt, der Faszination des Abenteuers gelauscht, den Hauch der Ewigkeit geahnt.
Auch deshalb wandere ich Jakobswege.
Gierig trinke ich mein Wasser. Ich mache jetzt bei den langen Etappen und der großen Hitze eine regelmäßige Tageseinteilung. Die erste Pause um zehn mit Wasser und einer Orange. Picknick um zwölf. Dann weitere Pausen um zwei, drei und vier Uhr, jeweils eine Viertelstunde mit viel Wasser und der zweiten Orange. Heute trinke ich 2 Liter Wasser, keinen Rotwein.
Die Römerstraße auf der Cañada ist wohl unten im Tal geblieben und hat den Höhenrücken umgangen. Die mittelalterlichen Pilger nahmen ja selten den direkten Weg. Sie eilten von Kapelle zu Kapelle, von Pilgerkreuz zu Pilgerkreuz, um zu beten und Steine abzulegen. Oft führten die Wege gerade in weiter, ebener Landschaft auf den einzigen Berg oder Hügel, um sich einen Überblick zu verschaffen über das Land, das noch vor ihnen lag, führten doch die Wege im Mittelalter vor den großen Landrodungen der Neuzeit tagelang durch dichte, verfilzte, niedere Buschwälder, aus denen es keine Aussicht gab. Heute ist alles baumloses Land, früher war es menschenleerer, undurchdringlicher Urwald, aus dem nur die einzelnen Hügel ragten.
Nun muß ich auf der steilen Geröllpiste wieder herunter, vorsichtig mit meinem Stock mich stützend, um den immer wieder schmerzenden Fuß zu schonen. Eine endlose Straße windet sich durch ebenso endloses, baumloses Land, 12 Kilometer, der Asphalt kocht bei 35 Grad und klebt an den Stiefeln wie Kaugummi. Gott sei Dank gibt es bald eine Kiespiste längs der Landstraße, überraschenderweise durch zauberhafte Blütenwiesen, Millionen von weißen, gelben und lila Blumen. Insekten summen, Schmetterlinge taumeln, die gräßlichen Fliegen versuchen auf meiner schweißnassen Haut zu landen. Ein stetiger Wind kühlt ein wenig, trotz der Hitze wird mir der Weg durch die Frühlingsauen nicht lang.
Alle 30 Minuten kriecht ein Auto auf der Straße entlang. Am Landgut Deheso del Mendigos, das gelb und heiß und verschlafen an der Straße nach der Brücke liegt – übrigens das einzige menschliche Gebäude heute am Weg – versuche ich Autostop. Obschon ich der einzige lebende Mensch in dieser Einöde bin, rauschen drei Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit an mir vorbei. Sie geben direkt Gas, wenn sie mich sehen. Sehe ich so schlimm aus, mit meinem Strohhut, Sonnenbrille, Pilgerstab und Rucksack? Später erzählen Leute mir, daß Spanier grundsätzlich keine Anhalter mitnehmen.
Ich gebe es auf und trotte noch acht Kilometer weiter durch nun wieder welliges Land mit schönen Ausblicken auf die weiten Felder. Vor mir sehe ich weit im Tal die beiden Holländer, zwei winzige bunte Menschlein, die sich kaum bewegen in der endlosen Weite. Total erschöpft komme ich in San Pedro an, in der Bar Morena kippe ich erst einmal ein eiskaltes Bier und eine Cola herunter. Die Wirtin hat eine kleine private Herberge um die Ecke, ein weißes Häuschen mit blau gestrichenen Fenstern und Türen, zwei Schlafzimmern mit acht Holzbetten und einen Aufenthaltsraum mit offenem Kamin und kleiner Küche. Alles recht gemütlich und persönlich eingerichtet, es liegen Bücher und Zeitschriften herum zum Lesen.
Heute essen wir alle noch einmal zum letzten Mal gemeinsam in der Bar zu Abend: die Holländer, die Spanier und Marguerita. Dazu wird eine Holzplatte über zwei Tische gelegt, mit Papier weiß gedeckt und darauf Teller und Gläser gestellt. Der Fernseher mit Stierkampf läuft in voller Lautstärke ungestört weiter, die Männer starren auf die Bildröhre, das Neonlicht wird ganz aufgedreht. Der Sohn der Wirtin, der hinter der Bar steht, hat ein schönes Gesicht wie ein Torero und ist auch so arrogant. Es gibt
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