Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
daß ich bei meinem Meisterfigaro in Frankfurt für den gleichen Haarschnitt 32 Euro bezahle. Ich erzähle ihm etwas von höheren Mieten, Steuern, Lebenshaltungskosten. Trotzdem, Deutschland, das reiche, teure Land.
Ich telefoniere mit meiner Frau, erzähle ihr von der Zahnärztin, sie müsse sich keine Sorgen machen, nur eine leichte Entzündung, sie bedrängt mich, wegen meines schmerzenden Fußes doch lieber heute noch auch zu einem Arzt zu gehen. Ich werde ihren Rat befolgen und gleich am Nachmittag ins Krankenhaus fahren. Ich kaufe noch leichte, blaue Stoffschuhe, in denen ich bequemer laufen kann als in meinen unbequemen Lederschuhen.
Doch vorher besuche ich noch das Museo Semana Santa, das Karwochenmuseum. Hier nun tauche ich ein in das tiefe Dunkel dieser Stadt, hier treffe ich auf meinen Traum der letzten Nacht. Ich begegne der mittelalterlichen Seele Kastiliens, die schwarz und bedrohlich aus finsteren Abgründen emporquillt ans Licht des gleißenden Tages. In dem düsteren Museum befinden sich alle die lebensgroßen, bemalten Figuren aus der Leidensgeschichte Jesu auf ihren Postamenten, die in der Karfreitagsnacht in stundenlanger Prozession durch die stockdunkle Innenstadt getragen werden. Männer tragen, von schwarzen Vorhängen verborgen, die schweren Postamente mit den Figuren zu dumpfen Trommelschlägen und Trompetenstößen in schwankendem Gleichschritt durch die nachtdunklen Straßen. Dazu laufen die Confratres – die Bruderschaften – in schwarzen und weißen, leinenen Gewändern mit spitzen Mützen, die den ganzen Kopf bedecken und in die nur zwei schmale Schlitze für die Augen geschnitten sind, in wiegendem Trommelschritt, in den Händen Fackeln haltend. Keine Musik, kein Licht, kein Gesang, nur das Stackato der Trommelschläge und die rußenden Fackeln in der Nacht, die schlurfenden Schritte und die wiegenden Leidensfiguren. Lebendes Mittelalter, die Tragik und die Größe eines Volkes, das auferstand vom Joch der Mauren, hineintaumelte in das Kreuz der Inquisition und der Katholischen Könige. Die Macht der grausamen Jesuiten, der Inquisitoren, die die Ketzer bis aufs Blut quälten, die frommen Patres, die Rosenkranz und Kreuz in den Händen, an der Spitze der Konquistadoren durch Amerika zogen, die Indios zu berauben, zu bekehren und wenn sie beides nicht wollten, auf die Scheiterhaufen zu werfen. Grausames Spanien, altes Spanien. Hier wird mein Traum wahr, den mir Santiago schickte.
Die Figuren des Leidens Christi sind so natürlich gestaltet, daß es mich schaudert. Jesu Leib am Kreuz, schmerzverquält mit gebrochenem Haupt, ist grellweißes, verwestes Fleisch mit lebensechten Blutstropfen und eitrigen Beulen. Das ist nicht der Christus Triumphans des Barock, der jubelnde König, dies ist ein zu Tode gemarterter, gequälter, gebrochener Körper. Dies ist ein makabrer Realismus, der sich fortsetzt in den zynischen, lachenden Henkersknechten, die ihm die Dornenkrone auf den geschundenen Kopf drücken, eine Krone, geflochten aus echten Dornen, der Mater Dolorosa laufen Tränen aus Glas über das wachsbleiche Gesicht, es ist alles nur Schmerz, Quälerei, Sadismus. Hier bin ich in die dunkle, tiefe Seele dieses Landes gedrungen, die sich im Stierkampf ausdrückt und in Francos Bürgerkrieg seinen letzten Gipfel erreichte.
Jetzt muß ich raus ans Licht, in die strahlende, heiße Sonne, Luft, Freiheit, Leben, ich will nicht mehr den Tod sehen, die Schreie der Gequälten hören. Ich muß jetzt meinen eigenen Leidensweg gehen, mit einem der kleinen, eleganten Stadtbusse in die große Klinik am Rande der Stadt fahren. Auch hier geht es einfach zu, meine internationale Krankenkassenplastikkarte wird auch hier akzeptiert, ein modernes Krankenhaus mit weißen Gängen, weißen Schwestern und grünen OP-Kitteln empfängt mich, ich bin der einzige Ausländer unter lauter Spaniern.
Señor Piter, ruft man mich, meinen Nachnahmen kann man hier nicht aussprechen. Dem freundlichen Arzt schildere ich in meinem gebrochenen Spanisch meine Leidensgeschichte, den Unfall im April in meinem Garten in Italien, umgeknickt, verstaucht, er schickt mich sicherheitshalber zum Röntgen. Da fällt mir das Herz in die Hose. Was ist, wenn ich einen Bruch habe? Dann ist mein Pilgerwandern nach 590 Kilometern zu Ende und ich kann mit dem Bus nach Santiago fahren.
Gleich flehe ich meinen Heiligen an, erinnere ihn an unseren Vertrag, mein Gelübde, er wolle mich ja wiedersehen in Santiago, zum dritten Mal hätte ich es ihm
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