Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
meinen Wanderstock gestützt, die Steilstrecke hinauf, das Messer im Knie, die Nadel im Fußgelenk.
Ich bin nun gänzlich ausgelaugt, mein strapazierter Körper hat nun nach 40 Tagen und 800 Kilometern keine Kraft mehr, ich bin am Ende, meine Reserven sind verbraucht, mein Körper baut ab. Wo ich vor zwei Wochen noch 35 Kilometer gelaufen bin, schaffe ich jetzt nur noch 20, morgen nur noch 15, dann noch weniger bis zum Zusammenbruch.
„Jakob, Jakob, warum hast du mich verlassen?“, stöhne ich, „hilf mir in meiner Qual! Nimm mir meine Schmerzen weg. Halte mich, daß ich nicht falle!“
Ich fühle mich wie Jesus auf Golgatha, seinem Schmerzensweg. Dies ist mein Schmerzensweg, mein Golgatha. Das Böse hat von mir Besitz ergriffen, kämpft in mir, versucht mich hinabzuziehen auf den roten, heißen Grund, mich abzubringen von meinem rechten Weg zu Santiago, meinem Heiligen. Ich hatte ja ein Gelübde getan, Weihnachten 2005 im Dom zu Mainz, daß ich pilgern würde, 1000 Kilometer zu seinem Grab, ihn zu küssen und zu umarmen, wie schon zweimal zuvor.
Für meine Tochter lief ich diesen Weg, wie schon einmal 2005 nach Santiago, zum Dank dafür, daß er ihr geholfen hatte. Damals war mein Gelübde in Erfüllung gegangen und ich war zum Dank 800 Kilometer gelaufen durch die Wildnisse Kantabriens, Asturiens und Galiciens, um an seinem Grab meinen Schwur einzulösen.
Jetzt versucht das Böse in mich einzudringen und mich zu hindern, mein Gelübde zu erfüllen. In mir tobt der ewige Kampf des Guten gegen das Böse, des Gesunden gegen das Kranke, des Willens gegen die Verzweiflung, und ich habe nun Angst, diesen Kampf zu verlieren. Nur der Heilige kann ihn noch gewinnen. „Vinceremos“ murmele ich – wir werden siegen. „Et Deus adjuva nos“ – und Gott helfe uns. So bin ich jetzt ein leidender Pilger voller Angst und Schmerzen, wie die Millionen vor mir, die ebenfalls gelobt hatten, sein Grab zu besuchen und in die Fänge des Bösen gefallen waren, Krankheit, Not und Pein.
Endlich bin ich oben auf meinem Golgatha, ich suche mir keuchend einen schattigen Platz unter den verkrüppelten Zwergkiefern auf heißen Steinen und stechenden Nadeln. Die Sonne brennt vom stahlblauen Himmel, der Wind zittert durch die trockenen, duftenden Kiefernäste. Ich liege im kühlen Schatten und schaue in die weite Bergwelt, die ich in den letzten Tagen durchquert habe. Die Kiefernnadeln wiegen sich im Wind, unsichtbare Lerchen schlagen über mir, ich träume in die blau verhangenen Berge, die sich seidig im Horizont verlieren. Mein Heiliger nimmt mich wieder in seine starken Arme, er wird mich nicht verlassen in meiner Not, er wartet ja auf mich, er darf den Kampf nicht verlieren.
Hinter dem Paß auf der Hochfläche mit überraschend grünen Wiesen und blühenden Kastanien wieder so ein kleines, verlassenes, verfallenes Örtchen, Alberguería – Albergária, haben die Galicier mit schwarzer Farbe daraus gemacht - stehen weiße Plastikstühle vor dem dunkelbraunen Steinhäuschen. Die Bar „Rincón de Peregrino“ – Pilgerwinkel – genannt, lauert auf die erschöpften Pilger. Ein räudiger Hund schläft im Schatten neben alten galicischen Wagenrädern.
Ich taumele in die erfrischende Kühle der schwarzdunklen Finsternis, der Raum ist vollgestopft mit Kürbissen, Würsten, Dreschflegeln, einem alten Radio und allerlei sonstigem, verstaubten Krimskrams. Unter der dunkelbraunen Holzbalkendecke schwingen hunderte von schneeweißen Jakobsmuscheln wie tanzende Schmetterlinge. Nach dem ersten eiskalten Bier kramt der Wirt eine aus einem großen Sack, ich muß mit einem schwarzen Filzstift unterschreiben und er hängt sie in einen freien Spalt zu den anderen. Noch ein schneller, glasklarer Agurdiente, ich muß mich losmachen, bevor die drei Alten vor der Bar mich totquatschen. Viele Pilger kommen hier nicht vorbei. Noch ein Schluck Wasser mit zwei Schmerztabletten – ich nehme jetzt eine Tablette alle zwei Stunden – danach geht es mir besser.
Ich steige durch schöne Wiesenwege an alten Steinmäuerchen vorbei, über weite, duftende Hochheide mit Ginster, Heidekraut und weißen Felsen. Auf dem nächsten Paß unter einem großen Holzkreuz breche ich wieder zusammen, der Blick geht weit in die Ebene des Río Limia mit dem Örtchen Vilar de Barrio im Talgrund. Ich bin nun ziemlich am Ende.
Das Knie schmerzt fürchterlich, der rechte Fuß auch. Der steile Aufstieg heute Morgen hat ihnen den Rest gegeben. Ich beschließe, morgen noch die
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