Auf der Sonnenseite - Roman
und weiter Pflasterer spielen sollen? Willgruber & Dietz hätte doch seinetwegen nicht die guten Geschäftsbeziehungen zur DDR aufs Spiel gesetzt. Zuerst kommt das Business, danach jede menschliche Verbundenheit. Und so ein »im Bösen« Weggegangener – der Verdacht wäre schnell aufgekommen – hätte das DDR-Geschäft von Willgruber & Dietz doch schädigen können. War ja damit zu rechnen, dass die drüben irgendwann von dem neuen Mitarbeiter erfuhren und diese Neueinstellung als »unfreundlichen Akt« einstuften. Er aber, Lenz, verdammt noch mal, musste endlich wieder etwas Vernünftiges zu tun bekommen, wollte er nicht ganz und gar vor die Hunde gehen. Auch war aus seiner Sicht eher unwahrscheinlich, dass jene Notlüge auffliegen würde. Da seine ehemaligen Kollegen seinen Sündenfall bisher so eisern verschwiegen hatten, würden sie das aus sozialistischer Scham vor dem Klassengegner sicher auch weiterhin tun.
Eine schizophrene Situation! Viele von Lenz’ ehemaligen Mitgefangenen hatten, kaum waren sie im Westen, Verurteilung und Gefängnishaft per westlichem Gerichtsbeschluss annullieren lassen, um endlich wieder eine weiße Weste zu haben und nicht in jedem Lebenslauf angeben zu müssen, dass sie in der DDR straffällig geworden waren. Hannah und er hatten das nicht getan. Eine Urteilsannullierung, so ihre Überzeugung, machte ja nichts ungeschehen. Und gehörte jene Haftzeit denn nicht zu ihrem Leben? Und empfanden sie nicht eine gewisse Genugtuung, dort drüben nicht alles mitgemacht zu haben, nur um in Ruhe ihr Abendbrot verzehren zu dürfen? Sie standen zu ihrer »Tat« – und doch musste Lenz sie nun verschweigen, entgegen seiner tiefsten Überzeugung.
Noch am gleichen Tag musste er ein zweites Mal lügen. Das war, als der Personalchef von Willgruber & Dietz – junger Mann mit glattem Scheitel, roten Bäckchen und schmalem Bärtchen – ihn fragte, ob er im Besitz eines Führerscheins sei.
Lenz nickte wie selbstverständlich. Doch er besaß keinen. Nie hatten Hannah und er daran gedacht, sich einen Wagen zuzulegen. In Berlin gab es Busse, S-Bahn, Straßen- und U-Bahn, und hätten sie sich für einen Pkw angemeldet, hätten sie mehr als sieben Jahre warten müssen, bevor ihnen einer zugeteilt worden wäre. Da hatten sie lieber verzichtet. Jetzt, im Westen, war er ohne Führerschein wie beinamputiert. So einen konnte man ja nicht mal zum Brötchenholen schicken.
Er hatte das früh erkannt und sich bei einer Fahrschule angemeldet, war bei den Prüfungen aber jedes Mal durchgefallen. Und das gleich dreimal und immer wegen Kleinigkeiten, die er nicht beachtet hatte. Dieser Kandidat, das war auf den ersten Blick zu erkennen, war voller Selbstzweifel, fahrig, unsicher, nervös. Man schickte ihn zum »Idiotentest«, er bestand ihn glänzend und durfte sich von nun an behördlich beglaubigter Nicht-Idiot nennen und ein viertes Mal sein Glück versuchen. Dieses vierte Mal hatte er noch vor sich, also war sein Nicken eine Lüge.
Zu seiner Beruhigung erwies sich aber auch die Firma Willgruber & Dietz als moralisch angreifbar. Da er nicht gewusst hatte, was ein Mitarbeiter seiner Qualifikation an Gehalt beanspruchen konnte, hatte man ihn zu zwei Dritteln jenes Gehaltes eingekauft, das seine Kollegen bekamen. Erfahrungen, wie auch Hannah sie schon gemacht hatte. Als er es mitbekam, ärgerte er sich – schon wieder Lehrgeld! – und war getröstet: Ganoven unter sich!
Jene zweite Lüge war dann aber schon bald keine mehr. Zehn Tage nachdem die Kinder gekommen waren, bestand Lenz die Führerscheinprüfung und trat tags darauf seine zweite Dienstreise an. Mit einem Firmen-Kombi voller Willgruber & Dietz -Produkte, darunter mehrere größere Geräte. Wäre er erneut durchgefallen, hätte er wohl eine plötzliche Krankheit simulieren oder kündigen müssen. So konnte er die Reise antreten und saß an den Tagen danach von morgens bis abends hinterm Lenkrad.
Über die süddeutschen Autobahnen raste er, durch Österreichs Bergwelt – Kurven, Kurven, Kurven –, über Jugoslawiens einschläfernd endlosen Autoput mit Hunderten von Kilometern wildem Gegenverkehr und später viele enge und steile, Adrenalin aufputschende Gebirgspässe hoch. In den Schluchten des Balkan! Auf den Spuren von Karl Mays Kara ben Nemsi.
Ziel seiner Reise? Kein Drehbuch- und kein Romanautor hätte es sich spannender ausdenken können: Es ging nach Sofia, in die bulgarische Hauptstadt, in der er nach seiner Verhaftung drei Wochen in einer
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