Auf der Sonnenseite - Roman
ihr nicht so gut gefiel. Dennoch kam sie eines Tages freudestrahlend nach Hause gelaufen – von nun an durfte sie im Sportunterricht anziehen, was sie wollte. In OstBerlin war Einheitsdress vorgeschrieben gewesen. Und natürlich staunten beide über die Schaufenster der westlichen Geschäftswelt, in ihren Augen ein einziges Schlaraffenland.
Zu Lenz’ Geburtstag schenkten sie ihm einen schwarzen Schlips. Sie hatten ihr Taschengeld zusammengelegt; ihr erster größerer Einkauf. Wie hätten sie wissen sollen, dass Schwarz nicht gerade eine Modefarbe war?
Eine schöne, neue Gemeinsamkeit, doch war, was hinter ihnen lag, nicht vergessen.
»Und wenn es euch hier auch nicht gefällt, geht ihr dann wieder fort?«, fragte Silke einmal.
Die Eltern bemühten sich, den Kindern klarzumachen, weshalb sie gar nicht anders gekonnt hatten, als das Wagnis einer Flucht einzugehen, und dass sie keine einzige Sekunde lang daran gedacht hatten, sich von ihnen zu trennen. Man hatte sie gewaltsam auseinandergerissen. Der Fehler, den ihre Eltern gemacht hätten, bestünde einzig und allein darin, fest daran geglaubt zu haben, dass ihre Flucht gelingen würde. Doch seien sie nicht etwa leichtsinnig gewesen, sie hätten vor Verzweiflung nur nicht mehr ein und aus gewusst.
Die Kinder nickten, doch natürlich verstanden sie ihre Eltern nach wie vor nicht. Politische Probleme, das Wort »Überwachungsstaat«, Lenz’ Schreibversuche, die fehlende Meinungsfreiheit – was sollten sie damit anfangen? Und wie hätten sie begreifen können, dass in diesem Fall nicht diejenigen zu verurteilen waren, die Gesetze brachen, weil sie diese Gesetze nicht anerkannten, sondern der Staat, der seine Menschen einsperrte und solche gegen alles Menschenrecht verstoßenden Gesetze erließ?
In der Erinnerung der Kinder hatte die Zeit vor der Flucht etwas Paradiesisches. Es war ihnen gut gegangen, sie hatten liebevolle Eltern und eine schöne Wohnung, waren oft ins Grüne gefahren und in den Ferien an der Ostsee gewesen. Für sie hatte es keinerlei Notwendigkeit gegeben, alles hinzuwerfen und dafür Trennung und Schmerz in Kauf zu nehmen. Egal was das für ein Staat war, der die Eltern ins Gefängnis gesperrt und sie ins Kinderheim gesteckt hatte – wären ihre Eltern zu Hause geblieben, hätte es die zweijährige Trennung nicht gegeben.
Lenz erzählte ihnen, wie sie im Kindergarten und in der Schule gegen jede politische und moralische Überzeugung ihrer Eltern erzogen worden waren. Es habe die Gefahr bestanden, dass sie eines Tages einander nicht mehr vertraut hätten. Und wäre das am Ende nicht viel schlimmer gewesen als alles das, was sie nun hinter sich hatten?
Hannah berichtete vom Tod ihres Bruders Jo und wie man sie nicht zur Beerdigung hatte reisen lassen, weil solche Reisen dem Staat keinen Nutzen brachten, und das, obwohl sie doch als junges Mädchen ganz freiwillig aus dem westlichen Deutschland in das östliche gezogen war und selbstverständlich dort noch Verwandte haben musste. Und sie erinnerte die Kinder daran, dass ihr Vater schon damals öfter ins Ausland gereist war. Auch ins westliche. Eben weil seine Reisen dem Staat Nutzen brachten.
Silke und Micha stellten Fragen und bekamen Antworten. Im Leben von Kindern jedoch waren zwei Jahre eine lange Zeit und sie hatten sich sehr allein gelassen gefühlt und nur schwer ins Heimleben finden können. Auch litten sie wie ihre Eltern unter immer wiederkehrenden Albträumen; ein leiser Vorwurf blieb.
Hannah musste sie auf später vertrösten: »Eines Tages, wenn ihr älter seid, werdet ihr uns besser verstehen.«
Damit mussten die Kinder, aber auch ihre Eltern sich zufriedengeben. Zwar redeten sie immer wieder mal über jene Jahre, doch all das Neue, die frischen Eindrücke lenkten von allzu häufigen Rückblicken ab.
Es sollte ja schön werden, sie hatten genug gelitten. Und als es Weihnachten wurde, sollte ein großes Fest gefeiert werden. Als Wiedergutmachung für die beiden Weihnachtsfeste, die sie nicht zusammen feiern konnten. Ein Tannenbaum, der bis an die Decke reichte, wurde gekauft, jede Menge Süßigkeiten, Geschenke und was für die Pfanne. Seit ihrer Kindheit waren Hannah und Manfred Lenz nicht mehr so voller Vorfreude auf dieses Fest. Ganz zu schweigen von Silke und Micha.
Heiligabendvormittag wurde der Baum geschmückt. Jeder wollte mithelfen, es gab Streit, die Aufgaben mussten verteilt werden. Danach kochte Lenz seine beliebte Hühnersuppe, von der kein Löffelchen übrig
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