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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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blieb, und ein Spaziergang wurde gemacht; alles wie vor ihrer Trennung. Nur schneite es leider nicht, wie Silke und Micha es sich gewünscht hatten.
    Vor der Bescherung mussten die Kinder in ihren Zimmern bleiben; Lenz spielte den Weihnachtsmann. Er verkleidete sich nicht, das hatte er auch früher nie getan, er klopfte nur laut von draußen an die Wohnungstür, rief mit verstellter Stimme »Hoho! Hoho!«, wie es die Kinder einmal in einem amerikanischen Weihnachtsfilm gesehen hatten, und stapfte laut durch den Flur. Hannah sagte »Guten Tag, lieber Weihnachtsmann« und »Ja, die Kinder waren artig« und »Auf Wiedersehen, lieber Weihnachtsmann!« und die Tür schlug wieder zu.
    Die Kinder waren längst zu alt für diese Prozedur, doch hatten sie sich den unsichtbaren Weihnachtsmann gewünscht. Alles sollte so sein, wie es mal war.
    Es war zu viel, was die Kinder geschenkt bekamen. An jenem Abend jedoch musste das sein. Auch die übervollen bunten Teller hatten ihre Berechtigung. Michas Wunsch war ihnen Befehl gewesen: bunte Teller, so voll, dass alles runterfällt.
    Lenz fotografierte die Unmengen Abfallpapier und die strahlenden Kindergesichter: Silke neben dem Tannenbaum, Micha neben dem Tannenbaum und – mit Selbstauslöser – alle vier über den Tellern mit dem Kartoffelsalat.
    Nein, es konnte nicht in allem so werden, wie es mal war, doch hatten sie Schlimmes überstanden und waren wieder vereint. Und empfand denn nicht nur, wer eine ernsthafte Krankheit überwunden hatte, eine wirklich tiefe Freude über seine wiederhergestellte Gesundheit?
    Alle vier waren sie erhitzt vor Weihnachtsglück und Zukunftserwartung, und so nahm dieser Heiligabend kein Ende. Die Kinder hatten darum gebeten, selbst entscheiden zu dürfen, wann sie schlafen gehen wollten, und leichtsinnigerweise hatten Hannah und Lenz ihnen das versprochen. So sprang Silke noch weit nach Mitternacht von einem Geschenk zum anderen und ließ Micha seine Eisenbahn ohne Ende im Kreis fahren. Bis er etwas kaputt gemacht hatte und Lenz mal leise schimpfen durfte. Er befürchtete, dass Hannah und er aus lauter Schuldgefühl liebedienerisch zu den Kindern werden und damit neue Schuld auf sich laden könnten.
    Erst gegen zwei Uhr morgens fielen den Kindern die Augen zu und Lenz und Hannah durften sie ins Bett bringen und sich ebenfalls hinlegen. Doch konnte Lenz in dieser Nacht nicht schlafen, und so stand er bald wieder auf, um im Wohnzimmer an einer der Geschichten weiterzuschreiben, die er begonnen hatte, als die Kinder noch im Heim waren: Kindergeschichten.
    Er wusste selbst nicht, wie es über ihn gekommen war. Irgendwann, aus seiner Ohnmacht heraus, hatte er etwas für die Kinder tun wollen und begonnen, für sie eine Geschichte zu schreiben. Hauptheld war ein dreizehnjähriger indonesischer Bettler, den er auf seinen Reisen kennengelernt hatte. Der Junge trug einen Affen auf dem Kopf und hatte einen lustigen Bettelspruch auf den Lippen: »No Mama, no Papa, no Television.« Auf seine Fragen hin hatte der Junge ihm einiges über sein Leben erzählt.
    Eine harte Geschichte – die kleine Schwester des Jungen stirbt an Unterernährung, sein älterer Bruder wird zum Verbrecher. Lenz erschrak selbst über das, was er da zu Papier gebracht hatte, und begann schon bald darauf eine neue Geschichte, diesmal eine lustige, die er den Kindern vorlesen wollte, wenn sie endlich wieder bei ihnen waren: Der König mit den Sommersprossen.
    In einem Königreich namens Usambara sitzt der etwas dumme und von seinen Ministern schlecht beratene König mal zu lange in der Sonne und bekommt Sommersprossen. Weil er sich dafür schämt und will, dass alle Männer und Frauen, Kinder und Greise in seinem Reich genauso aussehen, damit sie nicht über ihn lachen können, befiehlt er seinen Bütteln die große Gleichmacherei: Jedem im Volk sollen Sommersprossen aufgetupft werden. Weil aber der Staatssäckel so leer ist, gewährt er auf Anraten seiner Minister all denen, die keine Sommersprossen aufgetupft haben wollen, die Möglichkeit, sich davon freizukaufen. Durch eine Sommersprossenverweigerungssteuer. Da gärt es im Volk und eine friedliche Revolution fegt den König mitsamt all seinen Ministern und Hofschranzen hinweg. Weil die Geschichte jedoch einen versöhnlichen Schluss haben sollte, darf der König sich am Ende Arbeit suchen und Gärtner werden. In seinem ehemaligen Schlosspark. Aus seinem Schloss aber wird – was sonst? – ein Kinderheim.
    Lenz ahnte nicht, dass es

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