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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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auch nicht.
    Er versuchte, sich abzulenken, fuhr zu weiteren Vorstellungsgesprächen und zog dabei immer größere Kreise, arbeitslos aber blieb er nicht. Solange sich nichts Besseres fand, verdingte er sich in einer Truppe von Pflasterern.
    Sie setzten Verbundsteine, die Marokkaner, die in Deutschland für ihre daheim gebliebenen Familien sorgten, und der studierte Volkswirtschaftler und einzige Deutsche in der Truppe Manfred Lenz. Eine anstrengende Arbeit, doch war Lenz körperliche Schinderei nicht fremd; in seiner Jugend hatte er Waggons mit Blei- und Kupferbarren entladen. Dennoch: Da hatte er nun zwei Jahre lang Abend für Abend die Volkshochschulbank gedrückt und an den Wochenenden Schularbeiten gemacht, um das Abitur nachzuholen, und anschließend ein vierjähriges Fernstudium auf sich genommen, es also mit Mühen zu etwas gebracht, wie es so schön hieß, und nun karrte er Steine und stand wieder ganz am Anfang.
    War das der erste Schritt von der ideologischen Unfreiheit in die materielle? Oder nahm er sich zu wichtig?
    Mit den Marokkanern verstand er sich gut. Er hörte zu, wenn sie von zu Hause erzählten, ließ sich, wenn sie tagsüber hungerten, erklären, was hinter dem Fastenmonat Ramadan steckte, und schmunzelte, wenn sie über ihren kleinen, dicken, deutschen Chef lästerten, den Inhaber der Straßenbaufirma, von dem sie sagten, dass er kein guter Autofahrer sei. Von irgendetwas mussten Mohammed, Ibrahim, Alwad, Gamal, Turan und Rahman ja glauben, dass sie es besser konnten. Ihr Leben in Deutschland war ganz und gar Chef-bestimmt. Er war ihr Herr und Gott, hatte für sie ein altes Haus gemietet, in dem sie für einen entsprechenden Lohnabzug schlafen, sich waschen und kochen durften, brachte sie zur Arbeit und wieder zurück. Er war die Macht, die über sie bestimmte, und er konnte sie ohne große Probleme durch andere Arbeitskräfte ersetzen. Sie aber, wie sollten sie so schnell eine neue, einigermaßen gut bezahlte Arbeit finden?
    Im Winter, nach eisiger Kälte und tausendmal Bücken und Wiederaufrichten, überfiel Lenz, zurück in der warmen Wohnung, regelmäßig nach dem Abendessen eine tiefe Müdigkeit. Und dann war er für die von Zweifeln und Selbstzweifeln geplagte Hannah kein sehr anregender Gesprächspartner. Aber was hätte er ihr auch erzählen sollen? Etwa, dass die Firma gerade sämtliche Parkplätze für das ZDF pflasterte, oben auf dem Mainzer Lerchenberg, wo der Wind stets besonders heftig pfiff, und dass er dabei schon das eine oder andere West-Fernsehgesicht zu sehen bekommen hatte?
    Solche »Erfolgsgeschichten« verkniff er sich lieber.
    Es kam, wie es kommen musste; eines Tages gab auch Lenz eine Stellenanzeige auf. Mit einem nach bundesrepublikanischen Maßstäben viel zu schlichten Text. Er brachte es nicht fertig, sich als »jung, dynamisch, perfekt« anzupreisen, blieb sachlich und erwartete kaum Zuschriften. Es kamen auch nur wenige – eine davon mit dem Absender Willgruber & Dietz , jene Firma, bei der er sich nicht bewerben wollte, um nicht als Bittsteller zu erscheinen, der auf alte Kontakte zurückgriff.
    Zwei Tage zögerte er, dann meldete er sich dort an, wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen und von seinem ehemaligen Verhandlungspartner Werner Kiesler freudig begrüßt.
    »Menschenskind, Lenz! Hab mich schon gefragt, wo Sie abgeblieben sind. Ihre ehemaligen Kollegen wurden ja immer ganz schweigsam, wenn ich wissen wollte, welche Regionen dieser Welt Sie denn nun bearbeiten.«
    Es wurde kein Vorstellungsgespräch, nur eine gemütliche Plauderei unter langjährigen Geschäftspartnern. Und so reagierte Kiesler eher verdutzt, als Lenz am Ende wissen wollte, wie es denn nun sei, ob man ihm eine Chance geben wolle oder nicht. »Na, Sie machen mir Spaß! Warum denn nicht? Sind doch immer gut miteinander ausgekommen. Keine Frage, dass wir Sie einstellen. Sind ja ’ne echte Verstärkung.«
    Zum Glück wusste er nicht, wo Lenz tatsächlich abgeblieben war, der graublonde, schlanke, agile, stets gut gelaunte Exportchef von Willgruber & Dietz. Denn die neue Verstärkung wollte es ihm nicht verraten, nach all den Erfahrungen, die sie hinter sich hatte. Er sei auf dem Weg der Familienzusammenführung in den Westen gelangt, so erklärte Lenz seinen Staatenwechsel – in der stillen Hoffnung, dass er bei dieser Lüge nicht rot wurde. Einziger Trost: Jene Lüge hatte ein festes Fundament, immerhin hatte Hannah hier Vater und Schwester.
    Und hätte er denn die Wahrheit sagen

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