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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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darauf wurde das Gerücht verbreitet, die drei RAF-Häftlinge und zuvor schon Ulrike Meinhof hätten sich nicht selbst getötet, sie seien ermordet worden. Von einem Geheimkommando des Staates, den sie bekämpft hatten. Wie sonst hätten die Waffen in Baaders und Raspes Zellen gelangen können?
    Für Lenz war dieses Gerede nicht glaubhaft. Eher eine gezielt verbreitete Latrinenparole; eine nützliche Legende für alle, die unter Aufgabe des eigenen Denkens weiterkämpfen sollten. Der Mythos vom Mord lag im Konzept der RAF-Führung! Ein letzter Kampfauftrag der Selbstmörder, die vom Ausgang der Landshut -Entführung erfahren hatten und als tote Helden und Märtyrer ihrer Sache weiterdienen und von ihren Gesinnungsgenossen gerächt werden wollten.
    »Ja, aber die Waffen?«, wandte Hannah ein. »Wie sind die in ihre Zellen gekommen? Im Hochsicherheitstrakt! Und vielleicht wurde dieses Küchenmesser ja nur benutzt, um alles nach Selbstmord aussehen zu lassen.«
    Eine Möglichkeit, die Lenz nicht ausschließen wollte. Andererseits hätte Irmgard Möller jene Küchenmesser-Attacke kaum überlebt, wäre sie von fremder Hand ausgeführt worden. Und was die Waffen betraf, da tippte er auf die Anwälte; ein Verdacht, der sich später bestätigen sollte. Eine der Pistolen war in dem Plattenspieler eingeschmuggelt worden, den man den Häftlingen zugestanden hatte – in zerlegtem Zustand, aber leicht wieder zusammenzusetzen –, die andere in präparierten Aktenordnern. Auch hatten Raspe und Baader in ihren Zellen Hohlräume entdeckt, in denen sie die Pistolen verstecken konnten. Sogar Sprengstoff wurde nach ihren Selbstmorden in jenen Hohlräumen gefunden. Blieb einzig die Frage: War das Gefängnispersonal so schusslig, so dumm oder so lax, dass es diese Liebesgaben der Anwälte an ihre Mandanten durchrutschen ließ? Oder – eine Vermutung, die Lenz ebenfalls nicht von der Hand weisen wollte – war da etwas wohlwollend in Kauf genommen worden?
    »In Wirklichkeit«, so musste er sich eingestehen, »trifft mal wieder das alte Sprichwort zu: Nichts Genaues weiß man nicht. Steckt nicht hinter jeder Information, die uns über die Medien zugespielt wird, ein Kalkül? Werden bestimmte Gerüchte nicht von Leuten gestreut, die zwar die Wahrheit kennen oder ahnen, aber sie einfach nicht gelten lassen wollen, weil sie ihrer Überzeugung widerspricht?«
    Fakt war nur eines, das sah auch Hannah nicht anders: Der Stasi wären diese Selbstmorde nicht passiert. Da gab es keine Plattenspieler, Aktenordner oder andere Utensilien in den Zellen, die auf eine solche Weise hätten zweckentfremdet werden können. Ein Küchenmesser über längere Zeit und gar über Nacht in eines Häftlings Hand – undenkbar! Hohlräume in den Zellen – ein Witz! Nein, hätte das Gefängnispersonal seine Pflicht erfüllt, hätten diese drei Selbstmorde verhindert oder zumindest sehr erschwert werden können. Auch zu einer humanen Inhaftierung gehörten schließlich Kontrollen. Es sei denn, sie wären absichtlich unterlassen worden. Aber durfte man das unterstellen?
    Wie war Lenz froh, als eine internationale Ärztekommission in ihrem Obduktionsbefund wenigstens die Selbstmorde bestätigte und damit alle Mordgerüchte widerlegte. Es würde ja wohl keiner behaupten wollen, diese Ärzte seien alle gekauft. Alles andere, so seine Hoffnung, würde die Zeit an den Tag bringen.
    Ja, und wie dachte Fränze über das Ganze? Nahm sie die Gerüchte über staatlich bedienstete Mörder für bare Münze, nur weil es zu ihrem Bild von der Bundesrepublik passte?
    Traf man sich, schwebte diese Frage wie eine unsichtbare Bedrohung über ihnen. So sprachen sie lieber nicht darüber. Sie wollten befreundet bleiben und redeten nur noch Unverfängliches miteinander: Der interessanteste Film zurzeit, das Buch, das man unbedingt lesen musste, die nächsten Ferien, das Wetter. Für Fränze, davon war Lenz überzeugt, waren die Toten auf jeden Fall »ermordet« worden; auch als Selbstmörder waren sie aus ihrer Sicht Opfer der Staatsmacht.
    Ein einziges Mal gab es eine Reaktion von ihr zu den Vorfällen. Das war, als eine große Zeitschrift über die »Helden von Mogadischu« berichtete: Der Mann, der die Geiseln befreite . Das Titelbild sehen und spöttisch den Mund verziehen war eins. Lenz bemerkte es und drehte die Zeitschrift um, mit dem Titelbild nach unten.
    Auch er hatte ein ungutes Gefühl bei dieser Beweihräucherung des GSG-9-Kommandos und seines Führers, einem hageren,

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