Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
Ihre Tageseinnahmen blieben gering, nicht selten lagen sie unter 50 Mark am Tag.
Trotz ihres Misstrauens verhielt sich Wilhelmine Heuer gegenüber ihrer Stammkundschaft großzügig und pflegte ein heute nicht mehr übliches Kaufmannsverhalten: Gute Kunden durften trotz bestehender Schulden noch anschreiben, sofern sie sich nicht abschrecken ließen durch die eine oder andere deutliche Aufforderung, endlich alte Verbindlichkeiten zu begleichen. Auch außerhalb der Geschäftszeiten konnten bis zweiundzwanzig Uhr spät entschlossene oder einfach nur durstige Kunden an ihrer Haustür klingeln, um Schnaps, Bier und Zigaretten zu kaufen. Wilhelmine Heuer schaute dann zunächst aus dem sogenannten »Oma-Fenster« ihrer Wohnung oder ging direkt in den Laden, schaltete dort das Licht ein und entschied mit einem Blick durch die Scheibe der Ladentür, ob sie den Kunden bedienen wollte. Wenn sie sich dazu entschloss, öffnete sie die ansonsten verriegelte Ladentür, ließ den Kunden eintreten und schloss hinter ihm sofort wieder ab. Ihre Angst, bestohlen oder überfallen zu werden, hatte sie vorsichtig werden lassen. Sie bediente den Kunden, kassierte kleinere Beträge direkt an der Ladenkasse oder ging mit größeren Geldscheinen in ihr Büro und kam mit dem abgezählten Wechselgeld zurück. Später ließ sie den Kunden durch die Ladentür wieder hinaus, sperrte zu, löschte das Licht und ging zurück in ihre Wohnung.
Vermutlich hätte Wilhelmine Heuer ihre wenigen Kunden noch einige Jahre bedient, doch an einem frühen Samstagmorgen klingelte ihr Brötchenlieferant vergeblich an der Tür. Statt einfach unverrichteter Dinge wegzugehen, alarmierte er die Polizei. Die Beamten öffneten die nur ins Schloss gezogene Wohnungstür, stellten fest, dass weder in der Wohnung noch im Laden Licht brannte, und machten sich auf die Suche nach der Frau. Schließlich fanden sie Wilhelmine Heuer in einem Nebenraum des Ladens – vermutlich war sie bereits seit mehreren Stunden tot. Die Beamten benachrichtigten einen Allgemeinmediziner, damit er einen Totenschein ausstellte.
Statt eine Leichenschau durchzuführen und am entkleideten Körper nach Spuren von Gewalt zu suchen, begnügte sich der Arzt mit einer flüchtigen Untersuchung: Zwar fiel dem Mediziner auf, dass sowohl ein Geschirrtuch als auch ein zugezogener Spanngurt um den Hals der Frau geschlungen waren und ihre Unterwäsche nach unten geschoben war, trotzdem schloss er nach einem oberflächlichen Blick auf die Tote ein Verbrechen aus. Seiner Auffassung nach handelte es sich um einen Suizid. Die Beamten informierten die Kriminalbereitschaft, worauf der Leichensachbearbeiter zum Tatort fuhr, um die Gründe für die Selbsttötung zu untersuchen und den Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen.
Für meinen Kollegen eine Routineermittlung, denn die polizeiliche Untersuchung von unnatürlichen beziehungsweise ungeklärten Todesfällen ist durch die Strafprozessordnung zwingend vorgeschrieben und somit beruflicher Alltag. Entsprechend dauerte es nicht lange, bis der Ermittler die tatsächliche Todesursache erkannte: Zusätzliche Würgemale und Drosselmarken am Hals sah er als untrüglichen Beweis dafür, dass Wilhelmine Heuer durch eine Kombination von Erwürgen und Erdrosseln (also Einengung oder Verlegung der Atemwege mit Händen und Drosselwerkzeug) ums Leben gekommen war. Der vermeintliche Suizid von Wilhelmine Heuer wurde somit zum Tötungsdelikt und ein Fall für die Mordkommission.
Leider ist es kein seltenes Phänomen, dass Hausärzte mit der Untersuchung von Toten überfordert oder zu sehr mit den Hinterbliebenen verbunden sind. Oft war die verstorbene Person jahrelang Patient bei ihnen, und die Ärzte gehen vorschnell von einer krankheitsbedingten Todesursache aus. Da sie den Leichnam in der Regel nicht entkleiden, entgehen ihnen selbst klare Anzeichen von Gewalteinwirkung. Anschließend steht auf dem Totenschein eine natürliche Todesursache, obwohl es sich in Wahrheit um Unfall, Suizid oder gar Mord handelt. Ich will hier nicht die Hausärzte an den Pranger stellen, im Gegenteil habe ich Verständnis für ihre prekäre Lage. Welcher Hausarzt mag schon einen Verstorbenen unter den Augen seiner Familie ausziehen, gewissenhaft untersuchen und schon allein dadurch Zweifel an einem natürlichen Tod oder der Redlichkeit der Angehörigen dokumentieren.
Nach einer Studie der Rechtsmedizin Münster werden in Deutschland jährlich bis zu 1200 Morde wegen einer mangelhaften
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