Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
Tagen so viele Informationen wie möglich über Wilhelmine Heuers Kunden und deren Gewohnheiten einholen mussten. Kein einfaches Unterfangen bei der Vielzahl der Kunden, zumal manche nur mit Vornamen bekannt und womöglich Obdachlose waren. Mir wurde schnell klar, dass mühselige und zeitaufwendige Ermittlungen auf uns warteten.
Wie immer wurden bei einer Erstbesprechung die Aufgaben verteilt: Während meine Kollegen die Angehörigen und Nachbarn der Toten vernehmen sollten, kümmerte ich mich um die Anträge für die notwendigen kriminaltechnischen Untersuchungen und holte mir aus der Wohnung der Toten sämtliche Aufzeichnungen, um weitere Hinweise auf ihre Bekannten und Kunden zu finden. Mit mehreren prall gefüllten Umzugskartons kehrte ich in mein Büro zurück und begann Adressverzeichnisse, Telefonlisten, Geburtskalender, Journale, Lieferscheine und Schuldscheine – ungeordnet und auf Karteikarten oder Zettel von Kneipenblöcken geschrieben – aufzulisten. Für jeden neuen Namen legte ich eine eigene Spur an, insgesamt fast vierhundert, und bat meine Kollegen, diese zu überprüfen. Die Durchsicht der Papiere überraschte mich: Wilhelmine Heuer war tatsächlich eine großzügige Frau gewesen. Nahezu hundert Kunden hatten reichlich von der Möglichkeit des Anschreibens Gebrauch gemacht und schuldeten ihr Beträge von über 2000 Mark. Eine immense Summe bei ihren geringen Tagesumsätzen.
Auch das Opferbild rundete sich weiter ab und bestätigte, was wir bereits wussten: misstrauisch gegenüber Fremden, großzügig gegenüber guten Kunden. Gerüchte, dass sie mit Kunden im Laden intime Kontakte unterhalten haben könnte, erwiesen sich schnell als vollkommen haltlos. Nicht klären ließ sich die Frage, ob der Täter in der Wohnung tatsächlich auch Geld gefunden und geraubt hatte. Abzüglich der von uns gefundenen Summe fehlten laut Buchführung zwar noch nahezu 3000 Mark, doch konnte sich auch dieses Geld in einem ihrer zahlreichen Verstecke befinden.
Parallel zu diesen Ermittlungen beauftragte ich ein rechtsmedizinisches Institut mit der serologischen Untersuchung der bei der Obduktion von Wilhelmine Heuer aus ihren Körperöffnungen (Scheide, Mund, After) entnommenen Abstriche. Mittlerweile hatte ich von dem Rechtsmediziner erfahren, dass er bei der mikroskopischen Untersuchung eines Scheidenabstrichs Spermien entdeckt hatte. Ich hoffte auf ein schnelles serologisches Ergebnis, da sich aus dem Sperma die Blutgruppe und ihre Untergruppen bestimmen ließen, was die Überprüfung der möglichen Tatverdächtigen wesentlich erleichtern würde. Die Möglichkeit der DNA-Typisierung mit Jeffreys’ Verfahren kannte ich zu Beginn der Mordermittlungen noch nicht, so dass wir uns beim Spurenmaterial auf die klassische Blutgruppenbestimmung beschränken mussten.
Meine Hoffnung erfüllte sich rasch: Nicht nur in der Scheide, sondern auch im Mund, an einem Finger und auf Rock und Pullover fanden die Biologen Sperma. Da die darin nachgewiesene Kombination der Blutgruppe AB und den Untergruppen nur auf jeden hundertachtzigsten Mann in Deutschland zutraf, würden wir die meisten Tatverdächtigen mit einer einfachen Blutprobe oder nach Vorlage ihrer Blutspendeausweise ausschließen können.
Zudem befanden sich in dem gesicherten Ejakulat lediglich vereinzelte und teilweise intakte Spermien. Eine Feststellung, die Raum für Spekulationen ließ: Hatte der Täter unmittelbar vor der Tat Geschlechtsverkehr gehabt oder sich selbst befriedigt? Handelte es sich um Vorspermien aus dem Präejakulat? Litt der Täter an einer Oligospermie mit einer krankhaft bedingten verminderten Anzahl von Spermien im Ejakulat? Hatte er sich einer Vasektomie, einer Sterilisation mit der Unterbrechung des Samenleiters, unterzogen? Oder war der Täter einfach alt? In jedem Fall konnte auch dieses Untersuchungsergebnis wertvoll für die anstehenden Überprüfungen möglicher Tatverdächtiger sein.
Die Faseruntersuchungen grenzten die Suche nach dem Täter weiter ein. An den Bandagen und der Unterhose von Wilhelmine Heuer waren Fasern gefunden worden, die nicht aus ihrem Haushalt stammten: violette Polyacrylfasern, verschiedene rote und auch indigoblau eingefärbte Baumwollfasern – Letztere vermutlich von einer Jeanshose. Insbesondere die Jeansfasern schienen für eine spätere Beweisführung geeignet zu sein. Obwohl sie aufgrund der Gleichartigkeit im Herstellungsverfahren ansonsten nur schwer oder überhaupt nicht zu unterscheiden sind, bekommen
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