Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
Leichenschau und stetig nachlassender Obduktionen nicht entdeckt. 2007 und 2008 wurden bei circa 850000 natürlichen Todesfällen pro Jahr laut der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) zwischen 650 und 700 vollendete Tötungsdelikte (Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen) erkannt. Nach der eben genannten Hochrechnung hieße das, dass nur etwa jede dritte Tat überhaupt bemerkt wird. Die hochgerechnete Dunkelziffer mag übertrieben sein, ebenso das passende bildhafte Zitat eines Rechtsmediziners: »Wenn auf jedem Grab eines unentdeckt Ermordeten eine Kerze stünde, wären Deutschlands Friedhöfe hell erleuchtet.« Dennoch steht fest, dass immer wieder Tötungsdelikte gar nicht erst erkannt werden.
Das Dunkelfeld lässt sich nur dadurch erhellen, dass die Feststellung des Todes und die Leichenschau strikt voneinander getrennt und von zwei Ärzten vorgenommen werden. Die Verantwortung für die Klärung der Todesursache liegt jedoch bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Daher müssen auch die eingesetzten Beamten und vor allem die Leichensachbearbeiter die Spuren eines unnatürlichen Todes lesen können, zur Unterstützung ihrer Thesen benötigen sie den Sachverstand speziell ausgebildeter Leichenbeschauer, und durch parallele Ermittlungen im Umfeld des Toten müssen sie nach Beweisen für einen natürlichen Tod oder ein Verbrechen, einen Suizid oder ein Unfallgeschehen suchen.
Der Mord an einer alten Frau bildet die Ausnahme bei Tötungsdelikten. Zwar hat in den letzten Jahren der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung Deutschlands zugenommen, dennoch haben Frauen über sechzig Jahre generell ein geringes Risiko, einem Mord zum Opfer zu fallen – obwohl sie weniger wehrhaft sind und Verletzungen bei ihnen eher einen tödlichen Verlauf nehmen. An Frauen dieser Altersgruppe werden ganz selten Sexualmorde, im Gegensatz zum Raubmord, verübt: 2001 gab es bei insgesamt elf Sexualmorden kein einziges Opfer in dieser Altersgruppe, 2008 bei insgesamt zwölf Fällen ein Opfer. Dieser geringe Anteil ist seit Jahren stabil.
Als ich am Tatort eintraf, hatten der Arzt und die Polizisten die Fundsituation der Leiche kaum verändert: Lediglich den Spanngurt am Hals hatte der Mediziner geöffnet. Die Tür zum Abstellraum war etwa dreißig Zentimeter weit geöffnet, durch den Spalt konnte ich die Beine der Toten erkennen. Mit gespreizten Beinen lag Wilhelmine Heuer in Rückenlage direkt hinter der Tür auf dem Fußboden. Mühsam zwängte ich mich in den Raum und konnte so Opfer und Fundort aus nächster Nähe in Augenschein nehmen:
Die kleine grauhaarige Frau wirkt zerbrechlich und wiegt höchstens 45 Kilo. Bluse und Kittel, beide weiß, sind zugeknöpft, jedoch zum Teil aufgerissen. Zwei abgerissene Knöpfe liegen neben der Leiche. Die Vorderseite des Rocks und der linke Ärmel des Pullovers sind fleckig, möglicherweise Wischspuren von inzwischen getrocknetem Sperma. Die Beine bis zu den Knien mit festen Bandagen umwickelt und angebeugt, dabei lehnen die gespreizten Oberschenkel an einer auf die Seite gedrehten Bierkiste. Der Kopf liegt in einem umgekippten Pappkarton mit alten Brötchen.
Die rechte Augenbraue ist aufgeplatzt. Augen und Mund der Toten sind geöffnet. Aus einem eingerissenen Mundwinkel verläuft eine dezente Blutspur am Kinn entlang. Im Oberkiefer haftet eine Prothese, während die Unterkieferprothese neben der Bierkiste auf dem Boden liegt.
Der Hals zeigt unter einem verknoteten Geschirrtuch Kratzspuren, Würgemale und eine breite Drosselmarke. Der vom Arzt geöffnete Spanngurt befindet sich im Nacken unterhalb des Kopfes von Wilhelmine Heuer. Ihr Genitalbereich ist entblößt, der Schlüpfer zerrissen und zusammen mit der Strumpfhose bis zu den Knien heruntergezogen. Unter ihrem Becken hat sich eine kleine Blutlache gebildet.
Nachdem ich mir ausführlich Notizen über die Tatspuren am Opfer gemacht hatte, verließ ich die Abstellkammer und sah mich am Tatort weiter um. Zwischen Nebenraum und Verkaufstresen lagen ebenfalls weiße Knöpfe auf dem Boden. Die auf dem Tresen stehende Kasse war geöffnet und enthielt nur Pfennigstücke und Groschen – kein Silbergeld, keine Scheine. Auf der Handtaschenablage des Tresens stand eine noch verschlossene 0,7-Liter-Flasche Korn.
Das Ladenlokal war mit Wandregalen an den beiden türfreien Seiten und mit einem Regal in der Mitte ausgestattet, die größtenteils mit Spirituosen gefüllt waren.
Zudem standen auf dem Boden zahlreiche Kartons
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