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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Ukerewe-Haus keine Namen und keine Steine mehr da. Innerhalb eines Monats waren seine Fenster zu leeren, rußgefleckten Höhlen geworden.
    Weil niemand sie pflegte, wurden die Shambas Opfer der Wildnis und des Unkrauts. Ziegen und Kühe weideten, wo es ihnen beliebte, die Terrassenmauern zerbröckelten, der Regen spülte die Erde in großen roten Tränen das Tal hinab. Felder, die Generationen von Familien ernährt hatten, verschwanden über Nacht. Niemand scherte sich mehr um den Baum der Frauen, um den Heiligenbildern ihre Becher voll Bier darzubieten. Die Hoffnung hatte in Gichichi keinen Wirkungskreis mehr. Diejenigen, die blieben, dachten ständig an den Tag, an dem wir die Straße hinaufblicken und die Stachel und Fächer und gedrehten Säulen des Chaga sehen würden, die wie Krieger entlang des Bergkamms stehen würden.
    Ich erinnere mich an den Morgen, als ich von einem Stimmengeraune aus dem Haus der Muthigas geweckt wurde. Männerstimmen, die sehr leise sprachen, um niemanden zu wecken, denn es war noch dunkel; dennoch weckten sie mich. Ich zog mich an und ging auf den Hof hinaus. Grace und Ruth trugen Pappkartons aus dem Haus und ihr Vater und noch ein paar andere Männer aus dem Dorf luden sie auf einen Nissan-Pick-up. Sie hatten früh angefangen und der Pickup war schon gut beladen. Die Kinder sammelten die letzten paar Gegenstände ein.
    »Ach, Tendeléo«, sagte Mr. Muthiga traurig. »Wir hatten gehofft aufzubrechen, bevor irgendjemand hier auftauchen würde.«
    »Kann ich mit Grace sprechen?«, fragte ich.
    Ich habe nicht mit ihr gesprochen. Ich habe sie angeschrien. Ich würde ganz allein zurückbleiben, wenn sie wegging. Ich wäre vollkommen verlassen. Sie stellte mir Fragen. Sie sagte: »Du sagst, ich darf nicht weggehen. Sag mir, Tendeléo, warum musst du bleiben?«
    Darauf wusste ich keine Antwort. Ich hatte als Grund dafür immer angenommen, dass ein Pfarrer bei seiner Gemeinde bleiben muss, aber der Bischof hatte meinem Vater mehrmals angeboten, ihn in eine neue Gemeinde in Eldoret zu versetzen.
    Grace und ihre Familie brachen in der Frühdämmerung auf. Ihre roten Rücklichter schwenkten in den langsamen Strom der Flüchtlinge ein. Ich hörte das Tröten der Hupe durch das ganze Tal, womit Tiere und Versprengte des Zuges gewarnt werden sollten. Ich versuchte, ihr Haus zu beschützen und in einem ordentlichen Zustand zu halten, aber zwei Wochen später kam eine Bande von Jungen aus einem anderen Dorf, sie brachen darin ein, nahmen alles, was sie mitnehmen konnten, und verbrannten den Rest. Das war eine neue Erscheinung, die im Radio als ›Sub-Terminum‹ bezeichnet wurde, brandschatzende und plündernde Banden, die die Leichname der toten Dörfer schändeten.
    »Aasgeier sind das«, sagte meine Mutter.
    Graces Frage war ein düsteres Abschiedsgeschenk, das sie mir hinterlassen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs meine Überzeugung, dass ich herausfinden musste, was uns diesen Entschluss auferlegt hatte. Die Bilder im Fernsehen und in den Zeitungen reichten dafür nicht aus. Ich musste es mit eigenen Augen sehen. Ich musste ihm ins Gesicht sehen und nach seinen Beweggründen fragen. Klein-Ei wurde meine Gehilfin. Wir stibitzten Geld vom Kollekte-Teller und hamsterten heimlich Nahrungsvorräte. Ein normaler Schultag eignete sich am besten, um zu gehen. Wir wanderten nicht geradewegs auf der Straße davon, wo man uns gleich bemerkt hätte. Wir nahmen ein Matatu nach Kinangop im Nyandarua-Tal, wo uns niemand kannte. Es herrschte immer noch reger Verkehr; das Matatu war vollgepackt mit Leuten vom Land, die allerlei Waren zum Verkaufen dabei hatten sowie Hühner, die an den Füßen zusammengebunden und unter den Bänken verstaut waren. Wir saßen hinten auf der Pritsche und aßen Nüsse aus einer Papiertüte, die aus einen Bibelseite gefaltet worden war. Überall waren schmutzig-weiße Fahrzeuge der Vereinten Nationen. Einer nach dem anderen stiegen die Leute aus und keine neuen stiegen ein. Nach Ndunyu waren nur noch ich und Klein-Ei als Fahrgäste übrig, und wir purzelten auf der Ladefläche des Wagens hin und her.
    Der Kumpel des Fahrers drehte sich um und sagte: »Also, wohin soll’s denn gehen, Mädchen?«
    Ich sagte: »Wir wollen uns das Chaga ansehen.«
    »Ach ja? Kommt das Chaga denn nicht bald genug zu euch?«
    »Könnt ihr uns dorthin bringen?« Ich zeigte ihm die Münzen aus der Kirchenkollekte.
    »Das würde erheblich mehr kosten.« Er sprach kurz mit dem Fahrer.

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