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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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ruhig war und wir uns über meinen Tisch hinweg unterhielten, pflegte sie den Kopf zu schütteln, weil ich die Vokale so komisch herausbrachte.
    »Ey-o.«
    »Ay-o?«
    Dann schüttelten sich die weichen Haarstacheln. Aber andererseits konnte sie meinen Namen ebenso wenig aussprechen. Shan, pflegte sie zu sagen.
    »Nein, Shohn.«
    »Shaon …«
    Also nannte ich sie Ten, was für mich so viel bedeutete wie Il Primo, Spitze des Haufens, König des Berges, Nummer Eins. Und sie nannte mich schließlich Shoun. Eines Nachmittags, als sie keine Schicht hatte, fragte ich Boss Wynton, was für ein Name Tendeléo war.
    »Na ja, ich meine, er ist afrikanisch, das verrät mir der Akzent auf dem e, aber Afrika ist ein großer Kontinent.«
    »Stimmt. Hat sie dir nichts darüber gesagt?«
    »Bis jetzt noch nicht.«
    »Sie wird mit dir darüber sprechen, wenn sie soweit ist. Und Herr Buchhalter, du musst sie mit Hochachtung behandeln, verdammt!«
    Zwei Wochen später kam sie an meinen Tisch und legte eine Reihe von Formularen vor mir aus, wie Tarot-Karten. Es handelte sich um Unterlagen zur Krankenversicherung sowie Anträge auf Sozialzuschuss und Wohngeld.
    »Angeblich kannst du gut mit Zahlen umgehen.«
    »Das ist eigentlich nicht ganz mein Gebiet, aber ich sehe es mir mal an.« Ich blätterte durch die Formulare. »Du arbeitest zu viele Stunden … sie versuchen, dir die Zuschüsse zu verweigern. Das ist die klassische Sozialhilfe-Falle. Es lohnt sich nicht, zu arbeiten.«
    »Ich muss arbeiten«, sagte Ten.
    Als Letztes kam mir ein Asylantragsformular des Innenministeriums unter. Sie sah mir zu, wie ich es in die Hand nahm und auffaltete. Bestimmt entging ihr nicht, wie ich die Augen aufriss.
    »Gichichi in Kenia.«
    »Ja.«
    Ich las noch mehr.
    »Mein Gott. Du bist aus Nairobi entkommen.«
    »Ja, ich bin aus Nairobi entkommen.«
    Ich zögerte, bevor ich fragte: »War es so schlimm?«
    »Ja«, antwortete sie, »ich war sehr schlimm.«
    »Ich?«, hakte ich nach.
    »Wie?«
    »Du hast gesagt: Ich war sehr schlimm.«
    »Ich wollte sagen, es war sehr schlimm.«
    Das Schweigen hätte unbehaglich sein können, vielleicht sogar tödlich. Das, was ich seit Wochen hatte sagen wollen, verpuffte ins Vakuum.
    »Darf ich dich irgendwohin ausführen? Jetzt? Heute? Wenn du fertig bist? Möchtest du irgendwo essen gehen?«
    »Das würde ich sehr gern«, sagte sie.
    Wynton gab ihr früher frei. Ich führte sie in ein großartiges Restaurant in Chinatown, wo die Kellner einen schon vor dem Eintreten fragen, wie viel man auszugeben gedenkt.
    »Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie, als der erste Gang aufgetragen wurde.
    »Probier es. Es wird dir schmecken.«
    Sie fummelte mit ihren Wantans und Essstäbchen herum.
    »Stimmt irgendetwas damit nicht?«
    »Ich erzähle dir jetzt etwas über Nairobi«, sagte sie. Das Essen war teuer und üppig und vorzüglich zubereitet, und wir rührten es kaum an. Gang um Gang ging in die Küche zurück, nachdem wir nur gerade eben darin herum gestochert hatten, während Ten mir die Geschichte ihres Lebens erzählte, von der Kirche in Gichichi, den Lagern in Nairobi, ihrer Karriere als Rottenmädchen und vom Chaga, das ihre Familie, ihre Zukunft, ihr Hoffnungen, ihre Heimat und beinah ihr ganzes Leben zerstört hatte. Ich hatte das Hereinbrechen des Chaga im Fernsehen gesehen. Wie die meisten Leute. Ich hatte mein Gerät dabei auf die Lautstärke von Hintergrundmusik zurückgedreht: oh, meine Güte, eine fremdweltliche Lebensform überwältigt die südliche Hemisphäre. Na ja, das ist schlecht für Safari-Urlaube und der Karneval in Rio fällt ins Wasser und die Brasilianer spielen keine Rolle mehr im nächsten World Cup, aber nächste Woche ist der Jahresabschluss einer größeren Firma fällig und wir schielen nach einem Auftrag an der Maine Road und die Zinssätze sind schon wieder gestiegen. Fremdweltler – na und? Wieder mal eine humanitäre Krise. Ich hatte den Niedergang von Nairobi verfolgt, die erste der wirklich großen Städte, die dran glauben mussten, und versuchte mir einzureden, dass das nicht Hollywood war, das war nicht Bruce Willis gegen die CGI. Hier ging es um zwölf Millionen Menschen, die vom Unheil geschluckt wurden. Im Gegensatz zu den meisten meiner Freunde und Arbeitskollegen hatte ich gespürt, dass sich in meinem Innern etwas schmerzhaft bewegte bei dem Anblick, wie sich die Wände des Chaga immer mehr den Türmen der Innenstadt Nairobis näherten. Das war wie ein Fußtritt in mein Herz.

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