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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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zwei Gläser ein, eine Einladung an mich. Ich erzählte ihm meine Geschichte und ihre Geschichte, während wir die Flasche leerten. Der Wein war sehr gut.
    »Also, wie kann ich sie finden?«
    »Über die offiziellen Kanäle bekommst du nie etwas heraus«, sagte Jean-Paul. »Am besten ist, du gehst selbst hin. Du hast sowieso noch fälligen Urlaub.«
    »Nein, habe ich nicht.«
    »Doch, hast du. Ungefähr drei Wochen. Ach … ja.« Er wühlte in den Schubladen seines Schreibtischs herum. Er warf mir einen schwarzen Plastikgegenstand zu, wie ein großes Zellulartelefon.
    »Was ist das?«
    »Die amerikanischen ID-Chips haben einen GPS-Transponder. Sie wollen immer wissen, wo ihre Leute sich aufhalten. Nimm es. Wenn sie einen Chip in sich hat, dann wirst du sie damit finden.«
    »Danke.«
    Er zuckte die Achseln. »Ich stamme aus einer Nation von Romantikern. Außerdem bist du der Einzige in diesem beschissenen Kaff, der einen guten Beaune zu schätzen weiß.«
    Ich flog mit einer sibirischen Chartermaschine nach Norden. Durch das Fenster konnte ich den Rand des Chaga sehen. Es war zu groß, um eine Eigenart der Landschaft zu sein oder ein geografisches Gebilde. Es war wie ein dunkles Meer. Es sah nach dem aus, was es war … eine andere Welt, die sich über unsere geschoben hatte. Vergleichbar damit, dass einige Gedanken zu groß sind, um in unsere Alltagswelt zu passen. Sie schieben sich durch sie hindurch, sie übernehmen sie und verändern sie bis zur Unkenntlichkeit. Wenn das stimmte, was der Arzt im Manchester Royal Infirmary über die Dinge in Tens Blut gesagt hatte, dann war dies nicht einfach nur eine neue Welt. Es war eine neue Menschheit. Dies war eine Umkehrung jeder Regel bezüglich der Gestaltung unseres Lebens, unseres Umgangs miteinander, unserer Selbsterhaltung.
    Die Lager waren ebenfalls zu groß, um sie erfassen zu können. Es gibt dort zu viel für diese Welt, die wir uns selbst geschaffen haben. Sie verändern alles, an das man glaubt. Mombasa hatte mich nicht darauf vorbereitet. Es war wie das Ende der Welt dort oben an der Front.
    »Also, Sie suchen jemanden«, sagte Heino Rautavaara. Er hatte während der Zeit des Niedergangs von Nairobi mit Jean-Paul zusammengearbeitet. Ich konnte ihm trauen, hatte J-P gesagt, aber ich glaube, er hielt mich für einen Narren oder im besten Fall für einen Romantiker. »Hier herrscht kein Mangel an Leuten.«
    Jean-Paul hatte mich gewarnt, dass die Aufzeichnungen nicht genau sein würden. Aber man hofft. Ich ging nach Samburu Nord, wo ich bei meiner von England aus geführten Suche Ten zum letzten Mal aufgespürt hatte. Keine Spur von ihr. Die UNHCR-Aufseherin, eine grimmig dreinschauende kleine Amerikanerin, führte mich durch die Reihen zwischen den Zelten. Ich blickte in die Gesichter und der Fährtensucher an meiner Hüfte schwieg. In jener Nacht sah ich diese Gesichter an der Decke, und viele Nächte danach auch noch.
    »Glaubst du vielleicht, du ziehst gleich beim ersten Mal das große Los?«, sagte Heino, während wir in einem Landcruiser der Ärzte ohne Grenzen auf der holperigen Lehmpiste nach Don Dul fuhren.
    In Don Dul hatte ich mehr Glück, wenn man es so nennen will. Ten war zweifellos zwei Monate zuvor hier gewesen. Aber acht Tage später hatte sie das Lager wieder verlassen. Ich blätterte das Berichtsbuch von vorn nach hinten und von hinten nach vorn durch, aber es gab keinen Eintrag darüber, wohin man sie gebracht hatte.
    »Es herrscht auch kein Mangel an Lagern«, sagte Heino. Er war ein zäher Kerl. Er konnte mich nicht weiter begleiten, aber er stellte mir eine Berechtigung aus, mit den Konvois des Roten Kreuzes bzw. des Roten Halbmondes zu reisen, die eine Fünfhundert-Meilen-Strecke durch die Lager entlang des nördlichen Terminums abfuhren. Im Laufe von zwei Wochen sah ich mehr Elend, als die Menschheit nach meiner Vorstellung jemals aushalten konnte. Ich sah die Gesichter und die Hände und die Bündel mit zusammengekratzten Sachen und dachte: Warum hält man sie hier fest? Wovor will man sie retten? Ist es so schlimm im Chaga? Was ist so schlimm daran, wenn Menschen lange leben, gegen Krankheiten immun sind, wenn sich zusätzliche Schichten in ihren Gehirnen ausbilden? Was ist so erschreckend daran, wenn Menschen fähig sind, an diesen fremdweltlichen Ort zu gehen und ihn zu beherrschen und zu dem zu machen, was sie haben wollen?
    Ich konnte das Chaga nicht sehen, es lag gerade eben hinter dem südlichen Horizont, aber ich war mir seiner

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