Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
scheint das niemanden zu bekümmern. Warum ist das seiner Meinung nach so? Er zuckt die Schultern: »Die Leute verdrängen die Realität. Immer und überall.«
Am nächsten Morgen breche ich auf. Die Fahrt zurück über Cape Cod entlang der landschaftlich besonders schönen Nebenstraße 6a führt durch kleine Dörfer, in denen ungezählte Häuser unter Denkmalschutz stehen. Kleine, individuelle Hotels, viele Antiquitätenläden und edle Restaurants weisen auf die soziale Schicht hin, die hier Urlaub macht. Das gehobene Bürgertum. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass viele Bewohner der Halbinsel die Entwicklung in Provincetown in den letzten Jahrzehnten misstrauisch und voller Widerwillen verfolgt haben, und ich merke, wie gut es mir gefällt, dass diese gediegene, etwas behäbige Selbstzufriedenheit, die diese Orte hier ausstrahlen, wenigstens ein bisschen durcheinandergeschüttelt wurde. Mag Provincetown auch noch so viele Probleme haben.
Das ist überheblich von mir. Es sagt mehr über meine eigenen Vorurteile aus als über die Wirklichkeit. Ich weiß doch gar nicht, wie es hinter dieser gefälligen Kulisse aussieht – ich habe mich ja nur in Provincetown umgesehen. Auf dieser Reise lerne ich fast ebenso viel Neues über meinen Beruf wie über die USA.
Gewiss, ich hatte schon vorher gewusst, dass wir Journalisten immer nur einen kleinen Ausschnitt der Realität zeigen und dass »objektive« Berichterstattung deshalb stets eine Chimäre bleiben muss. Da Nachrichten und ihre Bedeutung immer auch etwas mit kollektiven Werten, Klischees und Machtverhältnissen zu tun haben, verständigen sich Medien ohne irgendwelche Absprachen regelmäßig darauf, dass die Ermordung eines Kleinkindes einen größeren Nachrichtenwert hat als die Ermordung eines Obdachlosen und dass ein Flugzeugabsturz in der westlichen Welt aufsehenerregender ist als einer in Afrika, auch dann, wenn die afrikanische Gesellschaft eine bessere Sicherheitsstatistik vorweisen kann als die westliche (Ja, das gibt es.). Diese – von persönlichen Ansichten unabhängige – Setzung von Prioritäten nennt man professionell, und sie ermöglicht Journalisten die Illusion, dass, wenn schon keine Objektivität, dann doch wenigstens eine Annährung an objektive Berichterstattung und Analyse möglich ist.
Das gnädige Trugbild des eigenen Berufs löst sich in Luft auf, wenn man ohne konkreten Rechercheauftrag ganz alleine unterwegs ist. Eine ungewohnte Situation. Das Problem beginnt bereits mit der Auswahl der Orte und Gesprächspartner. Nicht Truro, sondern Provincetown: Schon diese Entscheidung definiert den Bildausschnitt. Will man die deutsche Bundeskanzlerin interviewen, dann muss man sich über Alternativen keine Gedanken machen – es gibt schließlich nur eine. Aber warum gehe ich in Massachusetts zu dieser Veranstaltung und zu jener nicht, warum führe ich lieber morgens als abends ein Gespräch, wie viel hat meine eigene Biografie mit der Frage zu tun, mit wem ich überhaupt ins Gespräch komme? Den größten Einfluss haben wahrscheinlich Faktoren, deren ich mir selbst gar nicht bewusst bin.
Wäre ich nicht eine Frau, sondern ein Mann, wäre ich nicht politische Korrespondentin, sondern ein Kulturjournalist, käme ich nicht aus Deutschland, sondern aus Indien: ich sähe ein anderes Amerika. John Steinbeck erzählte, wie er auf einem Rückflug aus Prag den bekannten Journalisten Joseph Alsop traf, der »mit wohlunterrichteten Leuten, mit Amtspersonen und Botschaftern« geredet habe, während er sich in seiner »liederlichen Art mit Schauspielern, Zigeunern und Vagabunden« herumgetrieben habe. »Sein Prag stand in keiner Beziehung zu dem, was ich gesehen und gehört hatte. Es war einfach nicht derselbe Ort, und doch waren wir beide ehrlich, keiner von uns war ein Lügner, beide waren wir nach allen Maßstäben ziemlich gute Beobachter, aber wir brachten zwei Städte mit nach Hause, zwei Wahrheiten.« Während seiner Rundreise entlang der Grenzen der USA sei er deshalb oft von Zweifeln begleitet worden: »Was ich hier niederschreibe, ist so lange wahr, bis ein anderer dieselbe Strecke fährt und die Welt nach seinen Vorstellungen neu arrangiert.«
Das ist kein Versuch der Entlastung. Die Einsicht, dass Subjektivität unvermeidlich ist, ist keine Entschuldigung für Fehleinschätzungen. Aber diese Einsicht – dass man nämlich immer auch selbst ein Teil der Geschichte ist, die man schreibt – wirft ein grelles Licht auf die engen Grenzen unserer
Weitere Kostenlose Bücher