Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Schnellstraße. Keinen weiten Umweg. Weit genug jedoch, wenn man ein Feuer bekämpfen soll.« Wahrscheinlich wäre die Kirche ohnehin nicht mehr zu retten gewesen, räumt Susan ein. Aber plötzlich sei der Bevölkerung hier bewusst geworden, dass die steigenden Immobilienpreise nicht nur ein individuelles Problem jedes Einzelnen seien, sondern die Grundversorgung der Stadt gefährdeten. Der komissarische Polizeichef von Provincetown wohnt in Truro. Einige Feuerwehrleute auch.
Es geht nicht nur um existenzielle Situationen. Es geht auch um Alltag. Susan Avellar hat Angst vor einer Schließung der örtlichen Schule. In diesem Jahr sind in der Abschlussklasse der High School gerade noch 16 Absolventen. Das bedeutet allerdings auch: die individuelle Betreuung der einzelnen Schüler ist optimal. »In einer so kleinen Schule werden alle irgendwann zur Familie.« Eigentlich genau das, was sich alle Eltern für ihre Kinder wünschen. Aber trotzdem werden nur wenige aus anderen Orten nach Provincetown geschickt, obwohl gesetzlich diese Wahlfreiheit besteht.
»Viele Eltern wollen unter keinen Umständen, dass ihre Kinder sehen, wie sich zwei Männer auf der Straße umarmen. Aber bei den großen Paraden, wo nun wirklich gewagte Kostüme zu sehen sind, da sind die Straßen gestopft voll mit Familien. Was natürlich bedeutet, dass die Kinder solche Paraden mit dem normalen Alltag von Schwulen verwechseln.« Diese Doppelmoral macht Susan Avellar rasend.
Falls das überhaupt möglich ist, dann ist sie noch stärker mit Provincetown verwachsen als ihre Schwester: »Ich bin so sehr Teil dieser Community wie der Hafen und das Pilgerdenkmal.« Aber sie ist niemand, den Liebe blind macht. Im Gegenteil – ihr Blick wird dadurch noch geschärft. Über die Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen spricht sie nüchtern, mit einem kleinen Anflug von Ironie.
Ganz so sonnig seien die Beziehungen nicht, wie beide Seiten immer behaupteten. Das habe ganz praktische Gründe. »Als Cousin Joe, dem dieses Haus gehört, in den Siebzigern nach seiner ersten Scheidung hierher zurückkam, war er ekstatisch: ›Schaut auf diese Freiheit!‹, hat er immer gesagt. « Susan kichert. »Jetzt ist er ein Rentner, kommt höchstens einen Monat im Jahr her und beschwert sich, dass die Schwulen hier alles übernommen hätten. Die Restaurants hätten zu lange geöffnet und man könne nicht schlafen.«
Am Abend berichtet mir Duane Steele von Konflikten, die sehr viel ernster sind. Der Ehemann von Mary-Jo erzählt, er sei gezwungen worden, seine traditionsreiche Zeitung Advocate im 131. Jahr ihrer Gründung zu verkaufen. Die Käuferin sei eine reiche Erbin, die gerne für ihn hätte Artikel schreiben wollen. Als er ablehnte – »nicht druckbar!« –, habe sie aus Rache ihre eigene Zeitung Banner gegründet und ihn mit Dumpingpreisen in die Knie gezwungen. »Meine Zeitung war die letzte Institution in Provincetown, die nicht homosexuell geleitet wurde. Ich glaube, sie schuldete es sich als Lesbe, mich kaputt zu machen.« Der Advocate wurde inzwischen eingestellt. »Sie haben ihn gekillt.« Haben. Plural.
Ob diese Darstellung zutrifft oder ob alles ganz anders war, lässt sich für mich nicht überprüfen. Es gibt Grenzen der Recherche, wenn man auf der Durchreise ist. Aber kein Zweifel besteht daran, dass dieser 68-jährige Mann, der hier nachts mutterseelenalleine sitzt und als stellvertretender Hafenmeister die Einhaltung der Fischerei-Vorschriften überwachen muss, tief gekränkt ist. »Früher waren wir mal ein Powerpaar: Mary-Jo eine einflussreiche Lokalpolitikerin, ich der Zeitungsverleger. Damals schlug uns heftige Opposition entgegen, aber es gab auch viele Leute, die unsere Freunde sein wollten. Wir hatten so eine Aura um uns – größer als das Leben.« Es ist bedrückend, ihm zuzuhören. Weil hier offenbar ein Lebenswerk in Scherben gegangen ist und weil derjenige, dem das widerfahren ist, die Schuld dafür nicht nur einer einzelnen Person, sondern außerdem ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zuweist. Das kennt man auch von anderen Orten auf der Welt.
Aber vielleicht hat die Bevölkerung von Provincetown in einigen Jahren ganz andere Sorgen. Ein Ladeninhaber, der hier seit sieben Jahren ein Spielegeschäft führt, möchte demnächst wegziehen. »Ich nehme die Warnung vor der globalen Erwärmung ernst,« sagt der 55-Jährige. »Ich will nicht hier sein, wenn die Stadt in 25 Jahren im Meer versinkt.« Außer ihn
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