Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
– Rhythmus bewegend, der nichts mit der Radiomusik zu tun hat.
»Hallo?«, rufe ich schüchtern. Dann etwas lauter: »Hallo?« Eigentlich müsste mich der Mensch in dem Boot gehört haben. Eigentlich hätte er schon mein Auto gehört haben müssen und das Klappen der Autotür. Aber er reagiert nicht. Schaukelt nur weiter mit dem Oberkörper. Vor und zurück, vor und zurück. Er dreht sich nicht um. Die Kapuze seines Pullovers schaukelt mit. Plötzlich werde ich hysterisch. Die kleinen, lustigen Halloween-Kürbisse neben der Eingangstür grinsen mich auf furchterregende Weise an. So muss es anfangen, wenn harmlose Reisende irgendwo verschwinden. Hitchcock hätte diese Szene drehen können. Mit unerfreulichem Ausgang. Ich drehe mich um und laufe – ach was: renne zu meinem Auto und fahre weg. Egal wohin. Bloß weg.
Wahrscheinlich war der Mann – ich denke, es war ein Mann – taub. Oder er litt unter Alzheimer. Oder er wollte einfach seine Ruhe haben. Oder er war autistisch. Aber mir reicht es danach mit Minnesota und mit dem Versuch, den Kontakt zu diesem Teil des Landes herzustellen. Also auf nach Fargo, North Dakota.
Drittes Kapitel Der Mythos von Cowboys und Indianern – und was davon geblieben ist
Fargo. John Steinbeck ist dahin gefahren, weil er es so beeindruckend fand, dass diese Stadt in der Mitte der USA – von Ost nach West gesehen – immer das dramatischste Wetter der Vereinigten Staaten zu haben schien, dass es also entweder besonders heiß war oder besonders kalt oder besonders schneereich. Als er dort ankam, war er enttäuscht, dass der Ort »genauso verkehrsverstopft, genauso neonbepflastert, genauso quirlig und voller Aktivitäten war wie jede andere aufstrebende Sechsundvierzigtausend-Seelen-Stadt«. Er freute sich aber darüber, dass diese abscheuliche Realität es nicht schaffte, das romantische Bild in seinem Kopf zu zerstören.
Schön für ihn. Ich hatte vorher kein romantisches Bild gehabt und finde Fargo, das inzwischen knapp 100000 Einwohner hat, einfach nur abscheulich. Gesichtslos und langweilig. Die durchaus hilfsbereite junge Frau im Besucherzentrum reagiert auf die Frage nach Sehenswürdigkeiten ein wenig hilflos. Ringt sich aber nach einigem Nachdenken dazu durch, mir den örtlichen Zoo zu empfehlen, außerdem ein Geschäft, in dem man ganz vorzüglich Sportbekleidung erwerben könne, und darüber hinaus den unmittelbar vor ihrem Arbeitsplatz gelegenen »Walk of Fame«. Dort werden offenbar alle, die jemals vor mehr als fünf Zuschauern aufgetreten sind und nach Fargo kommen, genötigt, ihre Unterschrift und den Abdruck ihrer Hände auf Zement zu hinterlassen.
Da ich ja schon in Minnesota, wenn auch vergeblich, nach einer ländlichen Unterkunft gesucht habe, buche ich jetzt ein Zimmer im Country Inn and Suites. In der Lobby stehen hübsche Polstermöbel mit Chintzbezügen, die gut in einen englischen Landgasthof passen würden. Aus dem Fenster sehe ich gegenüber am Ende eines großen Parkplatzes einen Supermarkt. Rechts liegt eine Tankstelle, links ein Spirituosengeschäft.
Am nächsten Morgen fahre ich zunächst einmal in Richtung Norden. Ginge es ausschließlich darum, die USA zu umrunden, dann müsste ich gleich nach Westen fahren, aber dahin führt nur eine schnurgerade Autobahn, und ich möchte das Land ja kennenlernen. Schon deshalb, weil North Dakota verglichen mit anderen US-Bundesstaaten sehr wenig Besucher hat. Also fahre ich gen Norden – allerdings auch auf einer schnurgeraden Autobahn – und biege erst in Grand Forks nach Westen ab. Dort gibt es eine Landstraße, wenn auch eine mehrspurige. Also einen sogenannten Highway.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Straßen hier breit sind und gerade verlaufen. Der Nordosten von North Dakota ist flach – was heißt schon flach? Platt. Von Landschaft kann man kaum sprechen. Allenfalls von Farben: von blassem, verwaschenem Grün und von schmutzigem Grau. Ein paar kahle Büsche stehen zwischen den Feldern. Eigentlich gibt es auch kein Wetter, nicht nur kein dramatisches, sondern überhaupt keines. Es ist ein bisschen bewölkt, ein bisschen kühl, ab und zu sieht man ein bisschen Himmel. Blassblau. Warum bloß haben Menschen jemals beschlossen, sich in dieser deprimierenden Gegend niederzulassen?
Weil der Boden fruchtbar ist. Kartoffeln, Sonnenblumen, Mais, Sojabohnen und Weizen wachsen gut. Über das undefinierbare Wetter am heutigen Tag sollte ich mich nicht beschweren. Steinbeck hatte recht damit, dass hier oft
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