Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
jemand. Aber es gruselt schön.
Mit meiner Leidenschaft für Geisterstädte bin ich nicht alleine. Im ganzen Mittleren Westen und Westen der USA gibt es ungezählte verlassene Siedlungen, und sie werden alljährlich von vielen tausend Reisenden besucht. Manchmal stehen nur noch ein paar Mauern, manchmal sind in den Häusern ganze Wohnungseinrichtungen zurückgelassen worden. Wenn wie hier der National Park Service die Stätte verwaltet, dann werden die Gebäude nicht etwa restauriert – das würde dem Prinzip der Geisterstadt ja widersprechen –, sondern »der Verfall wird aufgehalten«. Was ein sehr viel komplizierteres Verfahren ist, als man denken könnte.
Ruinen haben Menschen immer und überall fasziniert, aber eine amerikanische Geisterstadt ist nicht dasselbe wie das römische Pompeji. Nicht an Katastrophen und an die Gefahr des plötzlichen Todes mitten im Leben erinnert sie, sondern sie steht für zerstobene Träume. Einerseits. Andererseits aber eben auch für die Möglichkeit eines Neuanfangs. Die Bewohner sind ja nicht umgekommen, sondern zu neuen Ufern aufgebrochen. Deshalb liegt in der amerikanischen Geisterstadt nicht nur die Wehmut des Abschieds, sondern stets auch die Hoffnung auf eine weitere Chance. Die Weite des Landes, der Platz, der zur Verfügung stand und noch immer steht, haben es den Menschen ermöglicht, weiterzuziehen, wenn sie dort, wo sie siedelten, das nicht oder nicht mehr fanden, weswegen sie hergekommen waren.
Montana ist etwas größer als Deutschland, hat aber weniger als eine Million Einwohner. Das prägt den Blick auf die Welt und auf das eigene Leben. Der Mythos von der ewig nomadisierenden Gesellschaft, vom ungebundenen Wanderer auf der Suche nach dem Glück: hier ist er entstanden. Mit der Realität hat er – gerade hier – so wenig zu tun wie die meisten Mythen. Mobil sind die Leute vor allem in den Städten. Die große Mehrheit derer, mit denen ich in ländlichen Regionen gesprochen habe, lebt hingegen schon seit Jahrzehnten am selben Ort, oft bereits in der zweiten oder dritten Generation.
Die Weiterfahrt in den Nordwesten des Landes führt durch eine der schönsten Landschaften, die ich jemals gesehen habe. Nach den riesigen Prärielandschaften des Südostens schlängelt sich hier die Straße vorbei an idyllischen Seen in dramatischen Bergkesseln der Rocky Mountains, deren Gipfel schneebedeckt sind. Es ist schade, dass man nur gelegentlich einen Blick zur Seite werfen kann und ansonsten gut beraten ist, den Blick starr auf den Asphalt zu heften, das Lenkrad fest umklammert.
Vor einigen Jahren gab es in Montana tagsüber gar keine Geschwindigkeitsbegrenzungen. Heute gibt es sie, aber sie werden allenfalls für freundliche Empfehlungen gehalten. Vor allem Lastwagenfahrer überholen einen selbst dann gerne, wenn man – um genau das zu vermeiden – mit 120 Stundenkilometern die kurvige Straße entlangprescht. Auch hier hat es sich offenbar noch nicht herumgesprochen, dass der Verkehr in den USA angeblich völlig entspannt und aggressionsfrei dahinfließt. Die beruhigende Autosuggestion, es werde schon nichts passieren, wird immer wieder durch Tierkadaver und Kreuze am Wegesrand gestört, die mit frischen Blumen geschmückt sind.
Aber ich fühle mich hier so wohl, dass nicht einmal diese Todesrallye meine gute Laune trübt. Dem Reiseplan folgend, muss ich Montana jetzt allmählich verlassen – und fahre, als ich mich dieser Einsicht endgültig nicht mehr verschließen kann, sofort frohgemut zwei Stunden in die falsche Richtung. Übrigens das einzige Mal auf dieser Reise. Man muss kein Psychologe sein, um zu merken: Ich will hier einfach noch nicht weg.
Der Umweg führt mich in den Ort Polson, wo ein seltsames Museum zu besichtigen ist: »Wunder von Amerika«. Darin werden unübersichtlich und ungeordnet alte Waagen, Spielzeug, Taschenuhren, Sättel, Waffen, Musikinstrumente, Fotoapparate und sogar Militärfahrzeuge und Motorräder ausgestellt. Zwischendurch stehen Sinnsprüche und politische Bekenntnisse: »Amerika ist großzügig. Wir haben freigebig jeder anderen Nation der Welt Geld und/oder Nahrung gegeben.« Und: »Unsere Vorfahren hatten ihre Wurzeln in vielen Ländern, aber sie alle kamen nach Amerika, den Schmelztiegel für die Freiheit.« Ja, vor allem die Sklaven.
Gegründet hat das Museum 1985 die 72-jährige Frau, die mir die Eintrittskarte verkauft, zusammen mit ihrem Mann, einem ehemaligen Schweißer: »Um zu zeigen, wozu Freiheit die Menschen
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