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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Gaus
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säßen herum, täten nichts, lebten von der staatlichen Fürsorge.
    Was tut er selbst denn eigentlich genau? »Ich bin Minister. Ich muss unsere Regierung im Hinblick auf unser kulturelles Erbe leiten. Ich muss sie daran erinnern, dass Wasser und Land heilig sind. Aber neun – von zehn Mal werde ich übergangen.« Völlig unbegreiflich ist mir das nicht. Konkreteres ist George Reed nämlich nicht zu entlocken, trotz mehrfacher Nachfrage. Alle anderen seien eben Ja-Sager, knurrt er. »Ich bin eine einsame Stimme in der Wildnis.«
    Ich würde ihn so gerne sympathisch finden. Aber es ist nicht leicht. Das Büro sieht aus, als könne es nur noch mithilfe einer Planierraupe aufgeräumt werden. Chaotisch. Überall liegen Berge von Papier, teilweise zerrissen und zerknüllt. Dazwischen Bonbontüten, Essensreste, Kaugummipäckchen. Als ich um ein Glas Wasser bitte, wird mir ein benutzter Pappbecher gereicht: »Das ist alles, was wir haben.«
    Die Frau, die bisher schweigend unser Gespräch verfolgt hat, ergreift das Wort: »Wir waren hier zuerst. Die Weißen haben aber alles so eingerichtet, wie sie es wollten. Alles hier ist für sie, nichts ist für uns.« So, wie sie spricht, könnte sie die Tochter von George Reed sein. Es stellt sich heraus: Sie ist es. Die 47-jährige Cecilia Biglake arbeitet als Bürokraft für ihren Vater.
    Ihr kann ich die Frage stellen, die ich einem 70-Jährigen nicht mehr stellen kann: Warum bleibt sie in der Reservation? Warum zieht sie nicht weg, wie die große Mehrheit der Angehörigen anderer Indianervölker? Beide schauen mich fassungslos an. »Wir haben einen engen Familienzusammenhalt«, antwortet Cecilia. »Ich will nicht weg. Hier sind meine Wurzeln.« Und die Kinder? Die gehörten auch hierher. Allerdings, so räumt die Mutter ein, sprächen die inzwischen besser Englisch als Crow. »Aber sie verstehen Crow sehr gut.«
    »Das ist seit mehr als 5000 Jahren unsere Heimat«, bekräftigt der Vater. »Wir wurden niemals vertrieben. Wir wurden niemals besiegt.« Niemals besiegt? Würde ein Wettbewerb um die absurdesten Sätze veranstaltet, die ich während der Reise hörte – dieser Satz hätte gute Aussichten auf die Spitzenposition. Er erinnert mich an etwas, was ich in einem Buch über Vietnam gelesen habe. Ein hochrangiger US-Offizier sagte vor einigen Jahren zu einem vietnamesischen Kollegen: »Wir haben keine einzige Schlacht verloren.« Und der antwortete: »Stimmt. Aber das ist ziemlich irrelevant, oder?«
    Als ich mich verabschieden will, fordern mich beide auf, doch noch einen Kaffee mit ihnen zu trinken. Sie scheinen Vertrauen gefasst zu haben, und ich fühle mich schuldig. Weil ich nur noch weg will. Die Atmosphäre ist erstickend. Die lähmende Trauer und die Wut bereiten mir körperliches Unbehagen. Dabei weiß ich doch, dass Unterprivilegierte nicht verpflichtet sind, gütig und weise zu sein. Wie schrieb Bertolt Brecht? »Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« Alles wahr, alles richtig. Aber ich will trotzdem nur noch weg. Ich solle ihn unbedingt wissen lassen, wenn das Buch erschienen sei, das ich schreiben wolle, ermahnt mich George Reed. Er wolle den Teil über Montana lesen. Notfalls würde er jemanden finden, der diesen Abschnitt aus dem Deutschen übersetzte. Danach gleicht mein Abschied eher einer Flucht. Das zumindest, so tröste ich mich, würde dem Kulturminister gefallen, wüsste er es. Im Felde bleibt er unbesiegt.
    Beim Hinausgehen erinnere ich mich, dass mich vorhin ein Mann – ein Indianer – darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich das Licht am Auto angelassen hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich für diese kleine freundliche Geste einmal derart dankbar sein würde. Sie ist so wunderbar alltäglich. Und völlig frei von jeder historischen Belastung.
    Gründerväter? Mayflower? Unabhängigkeitskrieg? Wir mögen vieles darüber wissen und schon in der Schule gelernt haben, aber die gefühlte Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten sind die Mythen von Indianern und Cowboys. Hollywood, aber mehr noch die Produzenten sentimentaler Fernsehserien wirken auf uns ein, wenn wir Kinder sind – und später tragen wir die Bilder lebenslang mit uns herum, in denen der harte, gefährliche Existenzkampf im Wilden Westen mit dem Weichzeichner auf einen erfüllten Traum von Freiheit, Abenteuer, Naturverbundenheit und glücklichem Familienleben reduziert wird.
    Montana ist eine der Regionen, in denen der Mythos seinen Ursprung hat. Die Realität

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