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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Gaus
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war viel weniger romantisch als die Kinofilme, natürlich, aber nicht weniger aufregend. Was mich immer wieder aufs Neue verblüfft, obwohl ich es doch eigentlich weiß: in welch kurzem Zeitraum sich das Leben hier von Grund auf verändert hat und welch ungeheure Chancen und Möglichkeiten der Westen denen geboten hat, die das Glück hatten, Gelegenheiten zu bekommen, und das Talent, Gelegenheiten zu ergreifen.
    Das Leben von Conrad Kohrs, dessen ehemalige Ranch im Deer Lodge Valley sich in Montana besichtigen lässt, ist ein Beispiel dafür. 1835 im deutschen Wewelsfleth geboren, wanderte er in die Neue Welt aus und kaufte die Ranch 1866, gerade 30 Jahre alt, von John Grant für 19200 Dollar. Als Kohrs 1920 im Alter von 85 Jahren starb, wurde er der »Rinderbaron« genannt. Die Ranch war 400000 Hektar groß. Geschätzter Wert des Besitzes: 1,6 Millionen Dollar. Eine damals fast unvorstellbar große Summe.
    Was zwischen dem Ankauf seiner Ranch und seinem Tod lag: das Jahr 1870, in dem etwa eine Million Büffel in der Region getötet wurden. Das Jahr 1883, in dem die Northern Pacific Railroad seine Ranch erreichte und durchquerte – in demselben Jahr hatte der Präsident von Union Pacific Railway den letzten »Nagel« in die zweite transkontinentale Schienenverbindung geschlagen. Der Winter 1886, in dem scharfer Frost und Futtermittelknappheit etwa die Hälfte des Viehbestandes von Conrad Kohrs das Leben kostete. Er lieh sich 100000 Dollar von der Bank und holte seine Verluste innerhalb von drei Jahren wieder herein. 1886 gab es schon über eine Million Rinder in Montana – und inzwischen weniger als 350 wilde Büffel auf dem gesamten Territorium der Vereinigten Staaten. Das Jahr 1889, in dem Montana als 41. Bundesstaat in die USA aufgenommen wird.
    Conrad Kohrs hatte übrigens bereits 1892 Strom in seinem Wohnhaus, viele seiner Nachbarn mussten darauf noch etwa vier Jahrzehnte warten. Sie dürften ihn verabscheut haben. Man möchte ja nicht in Klischees denken, aber die Vorstellung ist unabweisbar, wie die Frauen ihre Männer fragten, warum die Kohrs eigentlich schon so lange elektrisches Licht hätten und sie noch immer nicht und ob sich das nicht endlich mal ändern ließe. Und überhaupt. Die edlen Möbel für die Villa des Rinderbarons kamen aus Chicago. Gelegentlich reisten Kohrs und seine Frau für Ferienaufenthalte zurück in die alte deutsche Heimat. Was müssen die Verwandten aus Amerika dort für ein Aufsehen erregt haben! Wie viele kleine Bauernjungen wohl davon geträumt haben, selber in der Neuen Welt »ihr Glück zu machen«, wenn sie erst einmal erwachsen sein würden?
    Das Bild des reichen Onkels aus Amerika ist in Europa tief im kollektiven Bewusstsein verankert. Im Gegensatz zu den vielen, vielen Auswanderern, von denen man zu Hause nie wieder gehört hat und die irgendwo verdorben und gestorben sind. Am Tag nach meinem Besuch auf der Ranch von Conrad Kohrs komme ich an einigen Kreuzen am Straßenrand vorbei. Hier liegen drei Männer begraben, die Ende des 19. Jahrhunderts tot aufgefunden wurden. Goldgräber vermutlich. Wer sie waren, woher sie kamen, wohin sie wollten – man weiß es nicht.
    Der Tag, an dem ich die Gräber sehe, ist passenderweise Halloween. Das Fest der Geister und Toten. Ohnehin habe ich heute ein ganz privates Halloween-Erlebnis. Endlos weit fahre ich durch einsame Wälder, vorbei an drohenden »Zutritt-verboten«-Schildern mitten im Nichts, auf einer schmalen, ungeteerten Straße in die alte Geisterstadt Garnet, die Ende des 19. Jahrhunderts während des Goldrauschs gegründet und noch vor 1920 weitgehend verlassen worden ist. Dort, inmitten alter Blockhütten, die einst ein Hotel, ein Saloon, der Kramladen, eine Arztpraxis und Wohnhäuser waren, bin ich mutterseelenallein. Obwohl der Ort vom National Park Service gemanagt wird und es dort auch herrliche große Parkplätze gibt, auf denen mein kleines weißes Auto völlig verlassen steht.
    Ich fürchte mich nicht so sehr vor Gespenstern, obwohl der Geist von Marion Dahl eigentlich auftauchen müsste, die während der Prohibition in den Dreißigern des letzten Jahrhunderts hier eine illegale Kneipe betrieben hat und bis Mitte der Sechzigerjahre als letzte Einwohnerin über die verlassene Stadt wachte. Ich fürchte mich jedoch mehr vor irgendeinem Einsiedler, der entweder verrückt oder interessiert an meinem Bargeld oder beides ist. Natürlich kommen weder Frau Dahl noch ein Einsiedler. In solchen Situationen kommt nie

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