Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)
seinen berühren. Er verliert sein Gefühl der Unabhängigkeit und wird eingeflochten in ein gewaltiges kollektives Bewusstsein.
Mit schierer Willenskraft zwängt er seine Identität, sein Wesen weiter in den Diamanten hinein. Er füllt ihn aus, existiert in jedem Teil davon, wird zu einem Bestandteil des Edelsteins.
Dann ist er eins mit den Nāga, besteht mit ihnen im Ewigen Jetzt, abgesehen von einem winzigen Teil seines Ich.
Kaundinya ist kein gewöhnlicher Mensch. Durch strenge Ausbildung, Meditation und Rituale hat er den Gipfel intellektueller und emotionaler Disziplin erreicht. Hier, am Anbeginn der menschlichen Geschichte, ist seine Selbstkontrolle einzigartig, und sie wird es bis zum Ende der Zeiten bleiben.
Die Nāga haben seinen Geist von dem Moment an heimlich abgetastet, als er zu ihnen kam, um bei ihnen zu leben. Sie haben nur gute Absichten gefunden, den Wunsch nach Frieden zwischen der Rasse der Menschen und der ihren. Kaundinyas wahres Ansinnen ist nie aufgedeckt worden.
Nun ist der Augenblick gekommen.
Er spannt jenen kleinen Teil seines Bewusstseins an, der nicht mit den Vereinten verschmolzen ist, und kehrt ihn nach innen, bohrt ihn tief in seine physische Hirnmasse.
Dort entdeckt er ein wichtiges Blutgefäß und zerrt daran.
Die heftige Blutung tötet ihn auf der Stelle.
In dem Moment, als sein Bewusstsein zerstört wird, sendet eseine Schockwelle durch die Struktur des Diamanten. Der Stein bekommt Risse und explodiert in sieben Teile.
Die Vereinten werden zerfetzt.
Millionen Nāga sinken tot zu Boden.
Die Geräusche des berstenden Diamanten hallen wie Gewehrschüsse durch den Tempel. Die Trümmer fallen vom Sockel auf den Boden, ihre Facetten funkeln wie Sterne.
Gewehrschüsse und Sterne.
Gewehrschüsse. Sterne.
*
Gewehrschüsse. Sterne.
Sir Richard Francis Burton schlug die Augen auf.
Es war Nacht.
Sterne füllten den Himmel.
Gewehrschüsse hallten durch die Wüste.
Ein Mann brüllte.
Ein Kamel schrie.
Stimmen stritten sich in einer der Sprachen der arabischen Halbinsel.
Träge schlossen sich seine Lider. Die Zeit geriet aus den Fugen und entglitt ihm.
Als er die Augen wieder öffnete, graute der Morgen.
Eine Gestalt kam in sein Blickfeld und musterte ihn. Eine Brise zerrte an ihren Gewändern. Es war zweifelsfrei eine Frau, das konnte Burton an der Wölbung ihrer Hüfte erkennen, an der sie den Kolben ihres Gewehrs abstützte.
»Nein«, sagte sie auf Englisch. »Du kannst es unmöglich sein.«
Er versuchte zu sprechen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Seine Haut brannte wie Feuer, doch in seinem Innern herrschte Eiseskälte nach der durchlittenen Wüstennacht. Er spürte nur noch Schmerzen.
Die Frau schlitterte den Sand herab, kam an seine Seite, knietesich hin und legte ihre Waffe ab. Ihr Gesicht war hinter einer Kufiya verborgen und blieb im Schatten: eine Silhouette vor dem orangefarbenen Himmel. Sie löste eine Taschenflasche von ihrem Gürtel, schraubte den Deckel auf und träufelte Burton Wasser auf die Lippen. Es sickerte in seinen Mund, zwischen seinen Zähnen hindurch und über seine Zunge. Es war so wohltuend, dass er vor Erleichterung das Bewusstsein verlor.
Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem Zelt, auf dessen Dach das Sonnenlicht brannte. Schwester Raghavendra lächelte auf ihn herab.
»Liegen Sie still, Sir Richard«, sagte sie. »Ich muss noch mehr Salbe auf Ihre Haut auftragen.«
»Bitte geben Sie ihm warmes Wasser mit einem Löffel Honig, Sadhvi.«
Es war dieselbe klangvolle Stimme, die Burton zuvor schon gehört hatte. Er wollte hinschauen, doch die Schmerzen erlaubten ihm nicht, den Kopf zu drehen.
Schwester Raghavendra flößte ihm süße Flüssigkeit ein.
»Wir sind gerettet«, sagte sie.
Wieder entglitt ihm das Bewusstsein, bis das Bimmeln von Kamelglocken und das Klatschen der Zeltplane ihn weckten, die vom Simoon bestürmt wurde, dem heißen Wüstenwind.
Man hatte ihn in eine halb sitzende Position gehoben. Weiche Kissen stützten seinen Kopf und seinen Rücken. Sadhvi Raghavendra saß zu seiner Linken, Algernon Swinburne zu seiner Rechten. Die Besitzerin der tiefen weiblichen Stimme stand zu seinen Füßen. Ihr Gesicht war noch immer von ihrer arabischen Kopfbedeckung verborgen.
Sie war eine große Frau, schlank, aber kurvenreich, und strahlte Selbstbewusstsein und Macht aus. Ihre großen, klaren Augen, die über dem Kopftuch hervorlugten, waren strahlend blau.
Sie griff nach oben, zog den Stoff beiseite,
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