Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
in die anderen; dann erwartete er ihn – er selbst hatte nichts erreicht – an einem vorher bestimmten Ort. Der Wagen kam nicht gleich, und Swann stellte sich den Augenblick seines Herannahens gleichzeitig so vor, daß Rémi ihm sagen würde: »Die Dame ist da und da«, und so, daß er von ihm hören mußte: »Die Dame war in keinem der Cafés, in denen ich nachgeschaut habe.« Und so sah er auch das Ende dieses Abends vor sich, immer dasgleiche und doch ganz verschieden, je nachdem, ob ihm die seiner Angst ein Ende bereitende Begegnung mit Odette vorausgehen würde oder der erzwungene Verzicht darauf, sie heute noch zu finden, und das Sichergeben in eine Heimkehr, ohne daß er sie noch einmal gesehen hätte.
Der Kutscher kam zurück, doch in dem Augenblick, als er vor Swann stand, fragte dieser nicht: »Haben Sie die Dame gefunden?« sondern sagte nur: »Erinnern Sie mich morgen daran, daß ich Holz bestelle, ich glaube, es geht zu Ende.« Vielleicht sagte er sich, daß wenn Rémi Odette in einem Café gefunden hätte, in dem sie nun auf ihn wartete, der unselige Abend sowieso bereits durch den Beginn der Verwirklichung eines glückseligen abgelöst sei, und daß er selbst jetzt gar keine Eile habe, sich eines Glücks zu versichern, das schon für ihn eingefangen war und nicht mehr entschlüpfen konnte. Es war aber auch ein Moment von Ermattung im Spiel; in seiner Seele war jener Mangel an Elastizität, den andere in ihrem Körper haben, diejenigen nämlich, die in dem Augenblick, wo sie einem Stoß ausweichen oder einen Funken von ihrem Anzug abschütteln, das heißt, eine rasche Bewegung ausführen müßten, sich erst einmal Zeit lassen und eine Sekunde noch in der Lage verharren, in der sie sich vorher befanden, um gleichsam von da aus erst einen Anlauf zu nehmen. Und hätte der Kutscher ihn mit der Bemerkung unterbrochen: »Die Dame ist da«, hätte er ihm vermutlich geantwortet: »Ach ja, richtig, dieser Auftrag, den ich Ihnen gegeben hatte … Soso, das hätte ich gar nicht gedacht«, und hätte weiter von der Holzbestellung gesprochen, um vor seinem Bediensteten seine innere Bewegung zu verbergen und sich selber Zeit zu lassen, die Unruhe zu vergessen und sich der Freude hinzugeben.
Doch der Kutscher kam ihm nur sagen, daß er sienirgends gefunden habe, und als alter Diener äußerte er seine Meinung dazu:
»Ich glaube, Monsieur sollte es aufgeben und nach Hause fahren.«
Die gleichmütige Haltung aber, die Swann mühelos zur Schau trug, als Rémi an der Antwort, die er brachte, nichts mehr ändern konnte, verflog abrupt bei dessen Versuch, ihn zum Verzicht auf seine Hoffnung und auf weiteres Suchen zu bewegen:
»Nein, keineswegs«, rief er aus, »wir müssen die Dame finden, es ist von größter Wichtigkeit. Sie wäre wegen einer bestimmten Sache sehr ärgerlich und sicherlich gekränkt, wenn sie mich nicht sähe.«
»Ich kann nicht verstehen, wieso die Dame gekränkt sein sollte«, antwortete Rémi, »wo sie doch selbst gegangen ist, ohne auf Monsieur zu warten, und wo sie gesagt hat, sie geht zu Prévost, und nachher war sie gar nicht da.«
Im übrigen wurden jetzt fast überall die Lichter gelöscht. Unter den Bäumen der Boulevards irrten nur noch vereinzelte Passanten in geheimnisvollem Dunkel kaum erkennbar umher. Manchmal ließ der schwarze Umriß einer Frau, die herantrat, ihm etwas zuflüsterte und ihn bat, sie mitzunehmen, Swann zusammenzukken. In qualvoller Unruhe streifte er alle diese dunklen Körper, als hätte er unter den Schatten des Totenreichs nach Eurydike gesucht.
Von allen Arten der Erzeugung von Liebe, von allen Wirkkräften zur Verbreitung der heiligen Krankheit 1 ist sicher dieser gewaltige Erregungssturm, der uns manchmal erfaßt, eine der zuverlässigsten. Dann fällt das Los unweigerlich auf die Person, mit der wir im Augenblick gerade gern zusammen sind; sie ist es, die wir lieben werden. Es ist dabei gar nicht nötig, daß sie uns bis dahin mehr oder auch nur ebensosehr wie anderegefiel. Es mußte nur dazu kommen, daß unsere Neigung für sie plötzlich ausschließlich wurde. Diese Bedingung aber ist erfüllt, wenn – in dem Augenblick, da diese Person uns fehlt – in uns an Stelle des Trachtens nach den Vergnügungen, die ihr Umgang uns bot, ein qualvolles Bedürfnis entsteht, dessen Objekt sie selbst ist, ein absurdes Bedürfnis, dessen Erfüllung die Gesetze dieser Welt unmöglich und dessen Heilung sie schwierig machen: das unsinnige und schmerzliche Bedürfnis,
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