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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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kitzelt wohl ein bißchen? Es ist nur, weil ich den Samt nicht zu stark reiben möchte. Aber sehen Sie, es war nötig, daß ich sie wieder festgesteckt habe, sie wären sonst heruntergefallen; ich glaube, wenn ich sie noch etwas tiefer hineinstekke … Sagen Sie ernstlich, bin ich Ihnen auch nicht lästig damit? Auch nicht, wenn ich einmal daran rieche, ich möchte nur wissen, ob sie duften oder nicht. Ich habe es noch nie versucht, darf ich? Sie sagen es doch auch ganz offen, nicht wahr?«
    Lächelnd hob sie etwas die Achseln, so als wollte sie sagen: Sie sind ja komisch, Sie sehen doch, daß es mir gefällt.
    Mit der anderen Hand strich er leise über ihre Wange hin; sie schaute ihm starr in die Augen, mit dem weichen, ernsten Blick der Frauen des florentinischen Meisters, denen er sie so ähnlich fand; ihre schimmernden Augen, die so groß und langgezogen wie bei jenen waren, schienen sich aus dem Rand der Lider lösen zu wollen wie Tränen. Sie beugte den Hals, wie sie alle es tun, in den heidnischen Szenen so gut wie auf den religiösen Bildern. In einer Haltung, die sie zweifellos gewöhnlich einnahm, die sie für angebracht hielt in solchen Augenblicken und auch jetzt nicht zu vergessen aufmerksam bedacht war, schien sie mit aller Macht ihr Gesicht von dem seinen fernzuhalten, als werde sie durch eine unsichtbare Kraft zu Swann hingezogen. Doch schließlich hielt Swann es selbst, bevor sie es gleichsam gegen ihren Willen auf seine Lippen sinken ließ, einen Augenblick zwischen beiden Händen von sich ab. Er wollte seinem Denken Zeit lassen, den Traum, dem er so lange nachgehangen hatte, wiederzuerkennen und seiner Verwirklichung beizuwohnen wie eine Verwandte, die man herbeiruft, damit sie ihrerseits den Erfolg eines Kindes mitansieht, das ihrem Herzen nahesteht. Vielleicht heftete auch Swann auf dieses Antlitz einer Odette, die ihm noch nicht gehört, die er noch nicht einmal geküßt hatte und die er zum letzten Mal in dieser Weise sah, jenen Blick, mit dem man am Tag der Abreise eine Landschaft mit sich forttragen möchte, die man für immer verläßt.
    So schüchtern aber war er mit ihr, daß er, da er sie an jenem Abend schließlich doch besessen hatte, nachdem er damit angefangen hatte, ihre Cattleyablüten zurechtzurücken, sei es aus Furcht, sie zu kränken, sei es ausBesorgnis, er könne nachträglich als Lügner dastehen, sei es aus Mangel an Mut, eine größere Anforderung an sie zu stellen als diese (die er auf alle Fälle wiederholen konnte, da ihm ja Odette beim ersten Mal deswegen nicht böse gewesen war), in den nächsten Tagen denselben Vorwand benutzte. Wenn sie Cattleyas am Kleide trug, sagte er: »Schade, heute abend brauchen die Cattleyas nicht zurechtgerückt zu werden; sie sind nicht herausgerutscht wie neulich; dennoch glaube ich, die hier sitzt nicht ganz richtig. Darf ich sehen, ob sie nicht stärker duften als die anderen?« Oder wenn sie keine hatte: »Ach! keine Cattleyas heute, da gibt es ja für mich nichts zurechtzurücken.« Auf diese Weise behielt er eine Weile die gleiche Ordnung der Dinge bei wie am ersten Tag; es fing jedesmal mit dem leichten Berühren von Odettes Brust und Hals mit Fingern und Lippen an, jedesmal war dies der Beginn seiner Zärtlichkeiten; und viel später noch, als sie vom Zurechtrücken der Cattleyas (oder der rituellen Scheinhandlung des Zurechtrückens) längst abgekommen waren, lebte die Metapher »Cattleya spielen« in ihrem Sprachgebrauch fort, zur schlichten Vokabel geworden, die sie schließlich ganz gedankenlos zur Bezeichnung des Aktes der physischen Inbesitznahme benutzten – bei dem man übrigens nichts besitzt –, und hielt die Erinnerung an jene vergessene Gewohnheit aufrecht. Vielleicht bedeutete auch diese besondere Art, »sich lieben« zu sagen, nicht genau das gleiche wie andere synonyme Ausdrücke. Man mag gegenüber Frauen noch so abgestumpft sein, den Genuß noch der unterschiedlichsten von ihnen immer als das immergleiche und altbekannte Erlebnis ansehen, er wird doch zu einem neuen Vergnügen, wenn es sich um schwer zu erobernde Frauen handelt – oder solche, die man dafür hält –, wenn man nämlich gezwungen ist, ihn durch irgendeine unvorhersehbare Einzelheit desUmgangs mit ihnen herbeizuführen, wie es am ersten Abend für Swann das Zurechtrücken der Cattleyablüten gewesen war. Zitternd hoffte er an jenem Abend (doch Odette, sagte er sich, konnte das, falls seine List Erfolg haben sollte, nicht erraten), daß aus den

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