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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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großen lila Blütenblättern der Besitz dieser Frau hervorgehen würde; und die Lust, die er bereits verspürte und die Odette, dachte er, vielleicht nur duldete, weil sie noch nichts davon wußte, schien ihm deswegen – wie es dem ersten Mann vorgekommen sein mag, als er sie inmitten der Blumen des irdischen Paradieses erlebte – eine Lust, die es bislang für ihn noch nicht gegeben hatte, die er erst neu zu schaffen suchte, eine Lust – wovon ja auch der besondere Name, den er ihr gab, eine letzte Spur bewahrte –, die völlig neu und einzigartig war.
    Jetzt mußte er jeden Abend, wenn er sie heimgebracht hatte, mit ihr ins Haus gehen, und oft begleitete sie ihn im Negligé zurück bis an den Wagen und küßte ihn vor den Augen des Kutschers, wozu sie dann bemerkte: »Was soll mir das ausmachen, was gehen die anderen mich an?« An den Abenden, wo er nicht zu den Verdurins ging (was jetzt öfter vorkam, seitdem er Odette auf andere Weise sehen konnte), den immer seltener werdenden Abenden, wo er seine gewohnten Gesellschaftskreise aufsuchte, bat sie ihn, ehe er nach Hause zurückkehrte, noch bei ihr vorbeizukommen, wie spät es auch werden möge. Es war Frühling, ein klarer, kalter Frühling. Wenn er eine Gesellschaft verließ, stieg er in seinen Mylord 1 , breitete eine Decke über seine Beine, antwortete den Freunden, die zu gleicher Zeit gingen und ihn aufforderten, mit ihnen nach Hause zu fahren, er könne nicht, er habe nicht die gleiche Richtung, und der Kutscher fuhr dann im Trab davon, er wußte, wohin es ging. Sie waren erstaunt, und in der Tat war Swann nicht mehr der gleiche. Niemand bekam mehr Briefevon ihm, in denen er um die Vermittlung der Bekanntschaft irgendeiner Frau bat. Er wandte keiner mehr seine Aufmerksamkeit zu und hielt sich von den Orten fern, wo Begegnungen dieser Art stattfinden. In einem Restaurant oder auf dem Lande nahm er eine Haltung ein, die derjenigen, an der man ihn noch kurz zuvor erkannt und von der man geglaubt hatte, sie sei untrennbar von ihm, genau entgegengesetzt war. So sehr schafft eine Leidenschaft in uns für kurze Zeit etwas wie einen neuen Charakter, der unseren sonstigen ersetzt und die bis dahin unveränderlichen Zeichen, an denen er kenntlich war, zerstört! Statt dessen wurde es jetzt ein feststehender Zug Swanns, daß er, wo er sich auch befinden mochte, hinterher noch Odette traf. Der Weg, der zwischen ihnen beiden lag, war der, den er unweigerlich durchlief und der damit zur rasch und unwiderstehlich wirkenden Neigungsebene seines Lebens wurde. Eigentlich wäre er manchmal, wenn es irgendwo spät geworden war, lieber unmittelbar nach Hause gegangen, ohne erst die lange Fahrt zu machen; er hätte dann eben Odette erst am nächsten Tag gesehen; aber die bloße Tatsache, daß er sich zu ungewöhnlicher Stunde die Mühe machte, zu ihr zu gehen, und sich dabei vorstellte, wie seine Freunde sagten: »Er ist sehr angebunden, offenbar ist da eine Frau, die ihn zwingt, immer noch zu ihr zu kommen, wenn es auch noch so spät am Abend ist«, gab ihm das Gefühl, daß er das Leben der Männer führte, in deren Dasein eine Liebesaffäre eine Rolle spielt und für die das Opfer an Ruhe und sonstigen Interessen, das sie für einen Traum der Lust und der Liebe bringen, einen inneren Reiz besitzt. Dann trat ein Zustand ein, in dem, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gab, die Gewißheit, sie erwarte ihn, sie sei nicht anderswo mit anderen, er brauche nicht nach Hause zurückzukehren, ohne sie gesehen zu haben, jene bereitsvergessene, aber immer zum Wiederaufflackern bereite Angst neutralisierte, die er an jenem Abend verspürt hatte, als er Odette nicht mehr bei den Verdurins fand, deren jetzige Beschwichtigung aber derartig wohltuend für ihn war, daß man es Glück nennen konnte. Vielleicht lag es nur an dieser Angst, daß Odette für ihn so wichtig hatte werden können. Die menschlichen Wesen sind uns gewöhnlich so gleichgültig, daß, wenn wir in eines von ihnen solche Möglichkeiten des Leidens und der Freude hineingelegt haben, es uns einer anderen Welt anzugehören scheint, sich mit Poesie umgibt und unser Leben zu einer tief bewegenden weiten Landschaft macht, in der es uns, je nachdem, näher oder ferner ist. Swann konnte sich nicht ohne innere Erregung fragen, was in künftigen Jahren Odette für ihn bedeuten mochte. Manchmal, wenn er in diesen kühlen Nächten von seinem Mylord aus den leuchtenden Mond sah, der seine Helligkeit zwischen seinen Blicken und

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