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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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hinweggehen, doch mehr wie ein Streicheln, das das Bewußtsein seines Glücks nur tiefer und süßer machte. Er ließ es sich von Odette zehnmal, zwanzigmal vorspielen und verlangte dazu, daß sie ihn währenddessen weiter küßte. Jeder Kuß weckt den nächsten. Ach! in diesenersten Zeiten einer Liebe sprießen die Küsse von ganz allein! Sie wuchern so dicht einer am anderen auf; man hätte ebensoviel Mühe, die Küsse, die man sich in einer Stunde gibt, zu zählen, wie die Blumen auf einer Maienwiese. Dann machte sie manchmal Miene abzubrechen und sagte: »Wie soll ich denn spielen, wenn du mich festhältst? Ich kann doch nicht alles zugleich; du mußt schon wissen, was du eigentlich willst; soll ich das Thema spielen oder nett zu dir sein?« Er wurde dann böse, und sie lachte hellauf, und ihr Lachen fiel verwandelt in einen Regen von Küssen auf ihn nieder. Oder aber sie sah ihn unmutig an, er sah wieder ein Gesicht vor sich, das gut im Leben Mose von Botticelli hätte figurieren können, er suchte ihm seinen Platz darin und gab dem Nacken Odettes die dafür nötige Biegung; und wenn er sie dann nach Art des Quattrocento in Temperafarben 1 auf die Wand der Sixtina gemalt hatte, berauschte ihn die Vorstellung, daß sie doch gleichzeitig hier und jetzt am Klavier saß, ganz bereit, von ihm geküßt und geliebt zu werden, die Vorstellung ihrer körperhaften, lebendigen Anwesenheit also mit einer solchen Macht, daß er sich mit verstörtem Blick und verbissenem Gesicht auf diese Jungfrau Botticellis stürzte und sie in die Wangen kniff. Wenn er sie dann verlassen hatte, nicht ohne gleich darauf zurückgekehrt zu sein, um sie noch einmal zu küssen, weil er vergessen hatte, in seiner Erinnerung irgendeine Besonderheit ihres Duftes oder ihrer Züge mitzunehmen, fuhr er in seinem Mylord heim und segnete Odette, weil sie ihm diese täglichen Besuche erlaubte, die ihr seiner Meinung nach eigentlich kein so großes Vergnügen bereiten konnten, ihn aber – indem sie ihm jede Gelegenheit benahmen, wieder an dem Leiden zu kranken, das bei ihm ausgebrochen war, als er Odette an jenem Abend bei den Verdurins nicht traf – vor Eifersucht bewahrenund ihm dazu verhelfen würden, ohne weitere solche Anfälle durchmachen zu müssen, deren schmerzhafter erster dann der einzige bleiben sollte, bis ans Ende dieser einzigartigen Stunden seines Lebens zu gelangen, die beinahe so verzaubert waren wie jene, in denen er bei Mondschein durch Paris fuhr. Wenn er dann bei der Rückkehr merkte, daß das Nachtgestirn jetzt eine andere Stellung zu ihm einnahm und sich nur eben über dem Horizont befand, und fühlte, daß seine Liebe ebenfalls unveränderlichen Naturgesetzen gehorchte, fragte er sich, ob die Phase, in die er eingetreten war, noch lange andauern würde, ob er in seinem Geist nicht bald das geliebte Gesicht nur noch einen fernen und unbedeutenderen Platz würde einnehmen sehen und wie nahe es daran sein mochte, keinen Zauber mehr zu entsenden. Denn Swann fand ihn jetzt, seitdem er verliebt war, wieder in den Dingen, wie zu der Zeit, da er als junger Mensch sich für einen Künstler gehalten hatte; doch war es nicht mehr der gleiche Zauber; dieser hier floß ihm einzig von Odette zu. Er fühlte die Inspiriertheit seiner Jugend, die durch ein Leben in der Gesellschaft verschüttet war, wieder in sich zu neuem Leben erwachen, doch trug sie den Widerschein eines bestimmten Wesens an sich und war von ihm geprägt; und in den langen Stunden, die bei ihr zu verbringen ihm jetzt ein so zartes Vergnügen bereitete, wurde er, allein mit seiner Seele und ihrem Heilungsprozeß, nach und nach wieder er selbst, allerdings für eine andere.
    Er ging immer nur abends zu ihr, und er wußte nichts davon, wie sie ihre Zeit tagsüber verbrachte, nicht mehr als von ihrer Vergangenheit, das heißt so wenig, daß ihm sogar jene kleine, als Ausgangspunkt dienende Information fehlte, die uns erlaubt, uns vorzustellen, was wir nicht wissen, und uns Lust macht, es näher zu erfahren. Daher fragte er sich auch gar nicht, was sie tun mochtenoch wie ihr Leben früher gewesen war. Er lächelte nur manchmal, wenn er daran dachte, daß man vor ein paar Jahren, als er sie noch nicht kannte, ihm von einer Frau erzählt hatte, die, wenn er sich recht erinnerte, nur sie gewesen sein konnte, als von einer Kokotte, einer ausgehaltenen Person, einer jener Frauen, denen er damals noch uneingeschränkt, da er wenig Zeit in ihrer Gesellschaft verbracht hatte, jenen

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