Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
den öden Straßen ergoß, dachte er an jenes andere klare und wie der Mond leicht rosig getönte Antlitz, das eines Tages in seiner Vorstellung aufgestiegen war und seitdem auf die Welt das geheimnisvolle Licht warf, in dem er sie erblickte. Wenn er nach der Stunde ankam, da Odette ihre Bediensteten zu Bett geschickt hatte, ging er, bevor er an der Vorgartenpforte schellte, erst zu jener kleinen Straße, an der im Erdgeschoß zwischen den gleichbeschaffenen, doch dunklen Fenstern der anstoßenden Häusern das einzige erleuchtete Fenster ihres Schlafzimmers lag. Er klopfte an die Scheibe, sie beantwortete diese Botschaft und erwartete ihn auf der anderen Seite an der Eingangstür. Er fand auf ihrem Klavier offen ein paar Stücke liegen, die sie besonders liebte, den Rosenwalzer oder Tagliaficos Armer Tor 1 (den man nach ihrem schriftlich aufgezeichneten letzten Willen bei ihrer Beerdigung spielen sollte), und er bat sie, statt dessen das kleine Thema aus derSonate von Vinteuil zu spielen, obwohl Odette sehr schlecht Klavier spielte; doch das schönste Bild, das uns von einem Kunstwerk bleibt, ist oft jenes, das sich aus den falschen Tönen erhob, die ungeschickte Finger einem verstimmten Klavier entlockten. Das kleine Thema gehörte für Swann auch weiterhin mit seiner Liebe zu Odette zusammen. Er spürte ganz genau, daß diese Liebe etwas war, dem nicht Äußerliches, nichts durch andere als ihn selbst Feststellbares entsprach; er war sich darüber klar, daß Odettes Vorzüge es nicht rechtfertigten, daß die in ihrer Nähe verbrachten Augenblicke ihm so wertvoll waren. Und oft, wenn der nüchterne Verstand in Swann allein die Oberhand gewann, wollte er nicht länger so viele geistige und gesellschaftliche Interessen diesem eingebildeten Vergnügen opfern. Sobald er aber das kleine Thema hörte, wußte es sich in ihm den nötigen Platz zu schaffen, die Proportionen seiner Seele veränderten sich; ein Bereich darin blieb einem Genuß vorbehalten, der, statt rein individuell zu sein wie jener der Liebe, sich Swann wie eine den konkreten Dingen überlegene Art von Wirklichkeit aufzwang. Solch ein Verlangen nach einem unbekannten Reiz weckte das kleine Thema in ihm, ohne ihm dabei etwas Bestimmtes als Erfüllung zu geben, daß die Seelenbezirke Swanns, in denen das kleine Thema die Sorge um materielle Interessen, alle menschlichen und allgemeingültigen Erwägungen ausgelöscht hatte, leer und offen dalagen und es ihm freistand, den Namen Odettes in sie einzutragen. Außerdem fügte das kleine Thema zu dem etwas Flüchtigen und Enttäuschenden, das Odettes Zuneigung für ihn hatte, seine geheimnisvolle Wesenssubstanz hinzu und verschmolz damit. Wenn man Swanns Antlitz betrachtete, solange er das kleine Thema hörte, hätte man meinen können, ein anästhetisches Mittel, das er eingenommen habe, lasse ihn freieratmen. Tatsächlich glich das Vergnügen, das die Musik ihm schenkte und das bald bei ihm zu einem wirklichen Bedürfnis wurde, dem Vergnügen, das er vielleicht gehabt hätte, Düfte zu erkunden, mit einer Welt in Verbindung zu treten, für die wir nicht gemacht sind, die uns formlos erscheint, weil unsere Augen sie nicht wahrnehmen, und ohne Bedeutung, weil sie sich unserem Verstand entzieht, eine Welt, in die uns nur ein einziger unserer Sinne Zutritt verschafft. Es bedeutete eine große Ruhe und eine geheimnisvolle Erneuerung für Swann – für ihn, dessen Augen, wiewohl zartsinnige Liebhaber der Malerei, und dessen Geist, wiewohl feiner Beobachter der Sitten, für immer die unauslöschliche Spur der Dürre seines Lebens an sich trugen –, sich in ein der Menschheit fremd gegenüberstehendes, blindes, aller logischen Fähigkeiten beraubtes Geschöpf verwandelt zu fühlen, sozusagen in ein legendenhaftes Einhorn, ein Fabelwesen, das die Welt nur mit dem Gehör wahrnimmt. Welch seltsamen Rausch fand er darin – da er in dem kleinen Thema einen Sinn suchte, in den sein Verstand nicht einzudringen vermochte –, seiner innersten Seele alle Hilfe vernunftbestimmten Denkens zu entziehen und sie allein durch den Gang, durch den dunklen Filter des Klangs hindurchgehen zu lassen. Er begann zu verspüren, wieviel Schmerzliches, vielleicht sogar im geheimen Unbeschwichtigtes doch der Süße dieses Themas zugrunde lag, doch er litt darunter nicht. Was machte es, daß es ihm sagte, die Liebe sei etwas Zerbrechliches, die seine war so stark! Er spielte mit der Trauer, die von ihm ausging, er fühlte sie über sich
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