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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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eigensinnigen, von Grund auf verdorbenen Charakter beigelegt hatte, den lange Zeit hindurch die Phantasie gewisser Romanciers ihnen andichtete. Er sagte sich dann, daß man oft wirklich nur das Gegenteil von dem anzunehmen braucht, was die Welt einer Person nachsagt, um sie richtig zu beurteilen, zumal wenn er mit einem solchen Charakter den Odettes verglich, die so gut, naiv, fürs Ideale begeistert und so völlig unfähig war, einmal nicht die Wahrheit zu sagen, daß er, als er sie eines Tages, um allein mit ihr zu Abend zu essen, gebeten hatte, an die Verdurins zu schreiben, sie sei krank, sie am nächsten Tag vor Madame Verdurin, die sie fragte, ob es ihr besser gehe, erröten, stammeln und ihr Gesicht so deutlich den Kummer und die Qual widerspiegeln sah, die eine Lüge für sie bedeutete, und während sie in ihrer Antwort erfundene Details über ihre angebliche Unpäßlichkeit des Vorabends häufte, sah sie aus, als bitte sie mit flehentlichen Blicken und tief bekümmerter Stimme wegen ihrer unaufrichtigen Worte um Verzeihung.
    An gewissen, jedoch seltenen Tagen kam sie nachmittags zu ihm und unterbrach ihn in seinen Träumereien oder bei der Arbeit an seiner Studie über Vermeer, die er wieder aufgenommen hatte. Es wurde ihm dann gemeldet, Madame de Crécy warte auf ihn im kleinen Salon. Er suchte sie dort auf, und wenn er die Tür öffnete, glitt beim Anblick Swanns über Odettes rosiges Gesicht – in dem es die Form des Mundes, den Blick der Augen, dieRundungen der Wangen veränderte – ein Lächeln. Sobald er allein war, sah er dieses Lächeln vor sich, dazu jenes, das sie am Abend vorher gehabt, ein anderes, mit dem sie ihn bei dieser oder jener Gelegenheit empfangen hatte, oder das, mit dem sie damals im Wagen seine Frage beantwortet hatte, ob es sie auch nicht störe, wenn er sich an den Cattleyas zu schaffen mache; das Leben Odettes in der übrigen Zeit aber war für ihn, da er nichts davon wußte, mit seinem farblos neutralen Ton wie jene Blätter Watteaus, auf denen man überall in Dreifarbenzeichnung auf chamoisfarbenem Papier unzählige Studien eines Lächelns sieht. Manchmal aber zeichnete in eine Ecke ihres Lebens, das Swann ganz leer erschien – obwohl sein Verstand ihm sagte, daß es das nicht sei, da er es sich nicht vorstellen konnte –, ein Freund, der, seine Liebe ahnend, sich wohl hütete, etwas anderes als Belanglosigkeiten von ihr zu erzählen, die Silhouette einer Odette ein, die er am gleichen Vormittag zu Fuß habe die Rue Abbatucci hinaufgehen sehen in einer mit Skunks besetzten »Visite«, einem Rembrandthut 1 und einem Veilchenstrauß im Ausschnitt. Diese harmlose Skizze hatte für Swann etwas Bestürzendes, weil er daraus mit einem Male ersah, daß Odette ein Leben besaß, das nicht ihm allein gehörte; er hätte gern gewußt, wem sie wohl in dieser Toilette hatte gefallen wollen, die er an ihr nicht kannte; er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wohin sie in jenem Augenblick ging, als ob es in dem ganzen farblosen – beinahe nicht vorhandenen, da für ihn unsichtbaren – Leben seiner Geliebten außerhalb jener verschiedenen Arten von Lächeln, die sie ihm schenkte, nur eine Sache gäbe: ihren Besuchsgang unter einem Rembrandthut, mit einem Veilchenstrauß im Ausschnitt.
    Abgesehen davon, daß er sie bat, das kleine Thema von Vinteuil an Stelle des Rosenwalzers zu spielen, versuchte Swann weder, ihr eher Stücke vorzuschlagen, dieer liebte, noch ihren in Musik und in Literatur gleichermaßen schlechten Geschmack zu verbessern. Daß sie nicht intelligent sei, war ihm vollkommen klar. Als sie ihm sagte, sie hätte es so gern, daß er mit ihr über die großen Dichter spreche, hatte sie sich vorgestellt, sie werde durch ihn im Handumdrehen heroische und romantische Couplets in der Art des Vicomte von Borelli 1 , womöglich noch rührendere, kennenlernen. Über Vermeer van Delft fragte sie ihn aus, ob er um eine Frau gelitten, ob eine Frau ihn inspiriert habe, und als Swann ihr gestand, daß man darüber nichts wisse, hatte sie jedes Interesse an dem Maler verloren. Oft sagte sie: »Ich würde gern glauben, daß es wirklich nichts Schöneres gibt als die Poesie, wenn nur alles wahr wäre und wenn die Dichter wirklich dächten, was sie sagen. Oft sind das aber Leute, die nur auf ihren Vorteil bedacht sind. Ich weiß Bescheid, eine Freundin von mir hat so eine Art von Dichter geliebt. In seinen Versen war immer nur von Liebe, Himmel und Sternen die Rede. Eines Tages aber sind ihr

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