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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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die Augen aufgegangen! Um mehr als dreihunderttausend Francs hat der Mensch sie gebracht.« Wenn Swann dann versuchte, ihr klarzumachen, worin künstlerische Schönheit eigentlich bestehe, auf welche Weise man Gedichte und Bilder bewundern müsse, hörte sie nach kürzester Zeit nicht mehr zu, sondern sagte: »Jaja … so habe ich es mir nicht vorgestellt.« Wenn er dann spürte, wie enttäuscht sie war, sprach er lieber die Unwahrheit und sagte ihr, daß das ja alles gar nichts sei, daß er nur jetzt keine Zeit habe, auf den Kern der Sache zu kommen, es gebe aber natürlich noch etwas anderes. Dann fiel sie ihm rasch ins Wort: »Etwas anderes? Was? … Dann sage es mir doch«, er aber sagte es nicht, da er wußte, wie unzureichend und wie anders als alles, was sie erhoffte, es ihr erscheinen würde, wieviel weniger aufregend und ergreifend; außerdem fürchteteer, sie könne zugleich mit der Kunst auch die Liebe sehr viel illusionsloser sehen.
    Tatsächlich fand sie, daß Swann in geistiger Hinsicht ihren Erwartungen nicht entsprach. »Du bist immer so kühl in allem, ich weiß gar nicht, woran ich bin mit dir.« Mehr wunderte sie sich über seine Gleichgültigkeit in Gelddingen, seine Freundlichkeit gegen jedermann, über sein Zartgefühl. Und es kommt tatsächlich häufig auch bei größeren Männern, als Swann einer war, vor, bei einem Gelehrten, einem Künstler, daß, wenn er nicht überhaupt von seiner Umgebung verkannt wird, dasjenige Gefühl, das ihm entgegengebracht wird und das beweist, daß seine geistige Überlegenheit auf sie Eindruck macht, nicht Bewunderung für seine Ideen ist, denn diese kann sie nicht erfassen, sondern die Achtung für seine Güte. Achtung empfand Odette auch vor der Stellung, die Swann in der Gesellschaft einnahm, aber sie wünschte nicht, von ihm in sie eingeführt zu werden. Vielleicht spürte sie, daß es ihm möglicherweise mißglücken könnte, vielleicht fürchtete sie auch, daß er, wenn er dort nur schon auf sie zu sprechen käme, Enthüllungen provozierte, die sie scheuen mußte. Jedenfalls hatte sie ihn gebeten, nie ihren Namen auszusprechen. Der Grund, weshalb sie nicht in der Gesellschaft erscheinen wollte, war, wie sie ihm sagte, ein weiter zurückliegendes Zerwürfnis mit einer Freundin, die, um sich zu rächen, später schlecht von ihr gesprochen habe. »Aber es haben doch nicht«, hielt Swann ihr vor, »alle Leute deine Freundin gekannt.« »Doch, doch, es bleibt immer etwas hängen, die Gesellschaft ist doch so böse.« Einerseits verstand Swann diese Geschichte nicht ganz, andererseits aber wußte er, daß solche Sätze wie »Die Gesellschaft ist doch so böse« oder »Es bleibt immer etwas hängen« im allgemeinen für wahr gehalten werden; es mußte also Fälle geben, auf die sie anwendbar waren.War Odettes Fall einer davon? Er fragte es sich, verweilte aber nicht lange bei diesem Gedanken, denn auch er unterlag jener Schwerfälligkeit des Geistes, die schon auf seinem Vater gelastet hatte, wenn er sich einem schwierigen Problem gegenübersah. Außerdem flößte diese Gesellschaft, die sie so fürchtete, Odette vielleicht kein großes Verlangen ein, denn um für sie vorstellbar zu sein, war sie von der, die sie kannte, allzuweit entfernt. Dennnoch war Odette, obwohl sie in mancher Hinsicht wirklich einfach geblieben war (sie hatte zum Beispiel als Freundin eine nicht mehr arbeitende kleine Schneiderin beibehalten, deren steile, dunkle und von üblen Gerüchen erfüllte Treppe sie fast täglich erklomm), leidenschaftlich auf »Schick« bedacht, aber sie hatte davon nicht den gleichen Begriff wie die Leute, die zur Gesellschaft gehören. Für diese ist der Schick die Ausstrahlung einiger weniger Personen, die bis in eine ziemlich entfernte Zone hineinreicht – mehr oder weniger abgeschwächt je nach der Distanz, in der man sich von dem unmittelbaren Umgang mit ihnen befindet –, das heißt innerhalb des Kreises ihrer Freunde oder der Freunde ihrer Freunde, deren Namen eine bestimmte Liste ergeben. Die Angehörigen jener Gesellschaftskreise haben diese Liste im Kopf, sie besitzen in solchen Dingen eine Art von Gelehrsamkeit, aus der sie einen bestimmten Begriff von Geschmack und Takt ableiten, so daß Swann zum Beispiel, ohne daß er sein Wissen um das gesellschaftliche Leben zu Hilfe nehmen mußte, ohne weiteres, wenn er in einer Zeitung die Namen der Personen las, die an einem Diner teilgenommen hatten, sagen konnte, wie »schick« das Diner gewesen sei, so wie

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