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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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innerhalb von ein paar Monaten die Stirn eines heißgeliebten Mannes anders erscheinen läßt als die eines betrogenen Liebhabers), jetzt sagte sie: »Oh, wenn ich doch endlich einmal diesen Mann und was hinter seiner Stirn vorgeht ändern und zur Vernunft bringen könnte.« Immer bereit zu glauben, was er wünschte, wenn nur irgendwie Odettes Verhalten ihm gegenüber noch einen Zweifel offenließ, stürzte er sich voll Eifer auf diese Worte und erwiderte: »Das kannst du, wenn du willst.«
    Und er versuchte ihr klarzumachen, daß ihn zur Ruhe zu bringen, zu lenken, zur Arbeit anzuhalten eine noble Aufgabe wäre, die viele andere Frauen zu übernehmen sich drängten – in deren Händen allerdings diese noble Aufgabe ihm nur als zudringliche und unleidliche Freiheitsberaubung erschienen wäre. Wenn sie mich nicht doch etwas liebte, sagte er sich, würde sie mich nicht verändern wollen. Um mich aber zu verändern, muß sie mich häufiger treffen. So sah er noch in dem Vorwurf, den sie ihm machte, einen Beweis ihres Interesses an ihm, vielleicht sogar ihrer Liebe; tatsächlich gab sie ihm deren jetzt so wenige, daß er gezwungen war, als solche bereits ihr Verbot anzusehen, dies oder jenes zu tun. Eines Tages erklärte sie ihm, sie möge seinen Kutscher nicht, er versuche offenbar, sie ihm, Swann, aus dem Kopf zu schlagen, jedenfalls lege er ihm gegenüber nicht die Zuverlässigkeit und Ehrerbietung an den Tag, auf die sie halten müsse. Sie spürte deutlich, daß er gern von ihr hören würde: »Nimm ihn nicht, wenn du zu mirkommst«, als würde ihm das wohltun wie ein Kuß. Da sie gerade gut aufgelegt war, sagte sie es denn auch; Swann war gerührt. Am Abend im Gespräch mit Monsieur de Charlus, zu dem er wohltuenderweise ganz offen von ihr sprechen konnte (denn auch seine belanglosesten Äußerungen selbst Personen gegenüber, die sie gar nicht kannten, bezogen sich in irgendeiner Weise auf sie), sagte er daher: »Ich glaube doch, sie liebt mich; sie ist so reizend zu mir, und es ist ihr offenbar nicht gleichgültig, was ich tue.« Und wenn er, im Begriff zu ihr zu fahren, mit einem Freund, den er unterwegs irgendwo absetzen wollte, in den Wagen stieg und jener andere sagte: »Schau an, du hast ja heute nicht Lorédan auf dem Bock?« so antwortete ihm Swann mit einer Art von schwermütiger Freude: »Weiß Gott! Gewiß nicht! Weißt du, ich kann Lorédan nicht nehmen, wenn ich in die Rue La Pérouse fahre. Odette mag nicht, wenn Lorédan mich fährt, sie findet, er ist nicht der richtige Mann für mich; was soll man da machen, du weißt ja, die Frauen! Ich würde sie sehr damit kränken. Wenn ich mir vorstelle, ich käme mit Rémi an! Mein Gott, was würde das geben!«
    Gewiß litt Swann unter der neuen gleichgültigen, zerstreuten, reizbaren Art Odettes ihm gegenüber; aber er kannte sein Leiden nicht; da Odette allmählich, von Tag zu Tag kühler geworden war, hätte er nur durch eine Gegenüberstellung dessen, was sie jetzt war, und dessen, was sie früher gewesen war, den Wandel erkennen können, der sich vollzogen hatte. Dieser Wandel war in der Tat die tiefe geheime Wunde seines Inneren, die Tag und Nacht in ihm brannte; sobald er aber spürte, daß seine Gedanken ihr zu nahe kamen, lenkte er sie rasch nach einer anderen Seite ab, um nicht zu sehr zu leiden. An und für sich wußte er: Es hat eine Zeit gegeben, wo Odette mich mehr geliebt hat, doch sah er diese Zeit niemehr vor sich. Ebenso wie es in seinem Arbeitszimmer eine Kommode gab, die er mit Erfolg anzuschauen vermied, indem er beim Betreten und Verlassen des Raumes einen Bogen machte, weil in der einen ihrer Laden die Chrysantheme lag, die sie ihm am ersten Abend, an dem er sie nach Hause brachte, geschenkt hatte, und auch die Briefe, in denen sie ihm sagte: »Warum haben Sie nicht auch Ihr Herz bei mir liegenlassen, ich hätte Ihnen nicht erlaubt, es sich wiederzuholen« und »Zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht Sie mögen, geben Sie mir ein Zeichen und verfügen Sie über mich«, so gab es in ihm auch eine Stelle, bis zu der er seinen Geist nie vordringen ließ; lieber ließ er ihn den Umweg langer Argumente nehmen, damit er nicht direkt an ihr vorüberkommen mußte: hier aber lebte die Erinnerung an seine glücklichen Tage.
    Alle Vorsichtsmaßnahmen wurden jedoch eines Abends zunichte gemacht, an dem er sich zu einer Abendgesellschaft begeben hatte.
    Es war bei der Marquise von Saint-Euverte, bei der letzten Soiree dieses Jahres von

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