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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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etwas fast Rührendes bekam. Dann reichte er ihn an einen seinerGehilfen weiter, der, noch ein schüchterner Neuling, den Schrecken, der ihn gepackt hatte, dadurch verriet, daß er wütende Blicke nach allen Richtungen sandte und das aufgeregte Gebaren eines gefangenen Tieres in den ersten Stunden seiner Zähmung an den Tag legte.
    Ein paar Schritte davon entfernt träumte ein großer Kerl in Livree in unbeweglicher, statuenhafter Haltung zwecklos vor sich hin wie jener rein dekorative Krieger, den man auf den tumultuarischsten Schlachtbildern Mantegnas auf seinen Schild gelehnt sinnend dastehen sieht, während alles neben ihm tobt und einander erwürgt; losgelöst von der Gruppe seiner Gefährten, schien er ebenso entschlossen, an dieser Szene keinerlei Anteil zu nehmen, die er unberührt mit seinen grausamen graugrünen Augen verfolgte, als handle es sich um den bethlehemitischen Kindermord oder das Martyrium des heiligen Jakobus. Er schien ganz und gar jenem Geschlecht anzugehören, das inzwischen untergegangen ist – oder hat es immer nur auf der Altarwand von San Zeno oder in den Fresken der Eremitanikirche existiert, wo Swann es gesehen hatte und wo es noch immer träumend weiterlebt? – und das aus der Verbindung einer antiken Statue mit einem paduanischen Modell des Meisters oder irgendeines Dürerschen Germanen hervorgegangen scheint. 1 Die Locken seines rostroten, naturkrausen, aber mit Brillantine festgeklebten Haars waren umständlich behandelt, wie sie es in den Werken der griechischen Bildhauerkunst sind, in die sich der mantuanische Maler unaufhörlich vertiefte und die, wenn sie schöpferisch auch nur den Menschen darstellt, doch aus seinen schlichten Formen so vielfältige und gleichsam der gesamten belebten Natur entlehnte Bereicherungen zu ziehen weiß, daß ein Haarschopf mit seinen leichten Wellen und den spitzen Schnabelgebilden der Locken oder in Form einer dreifachen natürlichblühenden Flechtenkrone angeordnet gleichzeitig wie ein Algenbündel, ein Taubennest, ein Kranz aus Hyazinthen und ein Schlangenknäuel wirkt.
    Andere, ebenso riesenhafte, standen auf den Stufen einer monumentalen Treppe, die dank ihrer dekorativen Anwesenheit und marmornen Unbeweglichkeit sehr wohl wie die im Dogenpalast »Gigantentreppe« 1 hätte heißen können und die Swann mit Trauer im Herzen betrat, weil Odette sie nie emporgestiegen war. Mit welcher Freude hätte er hingegen die düsteren, übelriechenden und halsbrecherischen Stockwerke erklommen, wo die kleine Schneiderin oben im fünften wohnte und wo er so gern an den Abenden sich aufgehalten hätte, an denen Odette hinkam, daß er glücklich gewesen wäre, seinen Platz dort teurer bezahlen zu dürfen als einen wöchentlichen Proszeniumslogenplatz in der Oper; sogar an anderen Tagen wäre er gern dort gewesen, um von ihr sprechen und mit Leuten zusammensein zu können, die sie regelmäßig aufsuchte, wenn er nicht da war, und die ihm eben deswegen von dem Leben seiner Geliebten einen verborgenen Teil innezuhaben schienen, einen wirklicheren, unzugänglicheren und geheimnisträchtigeren. Während man auf jener verpesteten und doch ersehnten Treppe der ehemaligen Schneiderin, da es keine rückwärtige Stiege für Lieferanten gab, am Abend vor jeder Tür eine leere benutzte Milchkanne auf der Strohmatte bereitstehen sah, waren auf der prunkvollen, doch verhaßten Treppe, die Swann in diesem Augenblick erstieg, auf beiden Seiten in verschiedener Höhe, vor jeder Vertiefung, die das Fenster der Portierloge oder die Tür einer Wohnung bildete, als Vertreter der verschiedenen Zweige des Dienstes, die ihnen oblagen, für den Empfang der Gäste ein Concierge, ein Majordomus, ein Silberdiener postiert (brave Leute, die an den übrigen Tagen der Woche verhältnismäßigselbständig in ihren Bereichen hausten, bei sich daheim speisten wie kleine Ladenbesitzer und morgen vielleicht im bürgerlichen Dienst eines Arztes oder Industriellen stehen würden); aufmerksam darauf bedacht, keine der Anordnungen zu mißachten, die man ihnen gegeben hatte, bevor sie die glänzende Livree anziehen durften, die sie nur in großen Abständen einmal trugen und in der sie sich nicht sehr behaglich fühlten, standen sie wie Heilige in ihrer Nische unter dem Bogen ihres jeweiligen Portals in strahlendem Glanz, der durch eine gewisse Gutmütigkeit, wie sie dem Volk eigen ist, etwas gemildert wurde; ein weiterer Riese in einer Tracht wie ein Kirchenschweizer stieß seinen Stab jedesmal

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